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Alt 07.06.2023, 12:28   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Teutonische Befindlichkeiten

Heute habe ich gesündigt, denn ich verstieß gegen ein Top-Gebot des deutschen Ethik-Kanons: Du darfst dein Auto lieben und pflegen, aber du sollst es nicht fahren! Grundsätzlich mache ich meine Besorgungen zu Fuß, was kein Problem ist, da ich alle Geschäfte, die der Grundversorgung dienen, innerhalb von fünf bis fünfzehn Minuten erreichen kann. Aber heute hatte ich mehrere Dinge zu erledigen, unter anderem Metallschrott im Wertstoffhof zu entsorgen und Wandhaken im Baumarkt zu kaufen, und das wäre ohne Mobilität schwierig zu schaffen gewesen.

Zunächst habe ich ein Kleid zum Textilgeschäft zurückgebracht, das zwar in Größe "M" angeboten worden war, worauf ich mich verlassen hatte, das sich aber bei der Anprobe zu Hause als Zuschnitt für Elefantenbabys herausstellte. Dann kam der Wertstoffhof an die Reihe, was schnell abgehakt werden konnte.

Weiter ging es zum Baumarkt. Ich brauchte eine Weile, bis ich die Abteilung für Haken und Nägel fand, denn sie war einem riesigen Sortiment an Schrauben und Dübeln mir nur zwei schmalen Fächern angegliedert, die kaum ins Auge fielen. Mit einem Päckchen Stahlhaken und einem Päckchen Stahlnägeln machte ich mich auf den Weg zu den Kassen, von denen nur zwei geöffnet waren, obwohl Hochbetrieb herrschte. Ich wählte die Schlange, die mir die zeitlich günstigere Abfertigung zu versprechen schien – und griff prompt daneben: Minutenlang bewegte sich nichts voran. "Gehen sie zur Kasse zwei", rief die Kassiererin uns zu, "sie ist ebenfalls geöffnet." Doch niemand in unserer Schlange, auch ich nicht, kam der Aufforderung nach, weil wir darin keinen Sinn erkennen konnten, denn dort reihten sich schon längst mehr Kunden als bei uns aneinander. Im Gegenteil stellten sich noch mehr Kunden bei uns an.

Hinter mir stand eine kleine, ältere Frau mit Bubikopf, die offensichtlich nur eine Bestellung oder die Rückgabe einer geliehenen Maschine zu bezahlen hatte, denn sie hielt keine Ware, sondern ein bedrucktes DIN-A-Vier-Blatt in der Hand. "Geht das nicht anders?", begann sie zu mäkeln. "Wieso sind nur zwei Kassen geöffnet, obwohl es noch zwei andere gibt?" Sofort griff der Kunde hinter ihr, geschätzt Mitte siebzig, ihre Worte auf. "Verstehe ich auch nicht. Was ist da bloß los?" Er hielt zwei Regalbretter in den Händen, für ihn offensichtlich eine Lappalie, wegen der zu warten eine Zumutung sein musste. "Die sparen doch, wo sie nur können", erwiderte die Frau. "Kennt man doch: Sparen, sparen, sparen, statt Personal einzustellen. Hauptsache, der Profit stimmt." Der Alte stimmte ein: "Und der Kunde muss es ausbaden."

Ich spürte, wie mir bei diesem Gespräch der Kamm schwoll. Eine alte Schachtel und ein verhutzelter Greis, offensichtlich längst in Rente und mit der Zeit der ganzen Welt gesegnet, regten sich darüber auf, dass auch andere Kunden Anspruch darauf hatten, fachgerecht bedient zu werden. Nur, dass sie das nicht so interpretiert hätten. Jeder Mensch, das wusste ich aus Erfahrung, hält sein Ego für das wichtigste auf Gottes Erden und erwartet, den roten Teppich ausgelegt zu bekommen. Und gerade die Rentner, für die Zeit kein Thema mehr sein sollte, denn was sie davon früher zu wenig hatten, besaßen sie nun in Fülle. Oder war es Panik, die sie ungeduldig machte, weil sie ständig die Schere im Kopf hatten, die vom Rest ihres Lebensfadens Zentimeter um Zentimeter abschnitt?

"Unerhört, so mit der Kundschaft umzugehen! Aber unser Geld wollen sie haben."

Inzwischen war mir außer dem Kamm auch der Hals geschwollen. Noch ein Wort, und …

"Die kriegen den Säckel eben nicht voll genug." Da hatte ich genug gehört und konnte mir eine bissige Bemerkung nicht verkneifen. "Hauptsache, man hat etwas zu meckern. Ohne geht es ja nicht."

"Wie meinen Sie das?", fragte der Bubikopf spitz. "Wo soll ein riesiger Laden wie dieser genügend Personal herbekommen? Es gibt ja keins", erwiderte ich. "Nicht jeder ist scharf auf so einen Job. Bei ALDI an der Kasse verdient man mehr als hier."

"Deswegen nehmen die nur Ausländer", war die Antwort. Mir blieb die Spucke weg. Ich kam mehrmals im Jahr in diesen Baumarkt, aber ausländische Mitarbeiter hatte ich nur wenige gesehen, und wenn einer von ihnen ein Schild mit einem nichtdeutschen Namen trug, konnte ich davon ausgehen, dass er in Deutschland geboren oder schon lange im Land war. Nie hatte es sprachliche Schwierigkeiten gegeben, und immer war ich hervorragend beraten worden.

"Man kann mal ein paar Minuten warten. Da bricht niemandem etwas ab. Wir sehen doch, dass das Personal nicht beim Kaffeekränzchen sitzt, sondern arbeitet."

"Das sagen Sie, junge Frau. Aber nicht jeder hat Zeit zu verschenken. Man hat Pflichten."

Junge Frau? Ich war seit acht Jahren in Rente. Und was Pflichten anging, wusste ich sehr gut, was sie einem abverlangten.

"Gegen sie zur Kasse zwei", mahnte die Kassiererin nochmal, jetzt energischer. "Ich habe eine Rückgabe abzufertigen, das dauert eine Weile."

Einer nach dem anderen rückte ab und stellte sich an Kasse zwei an. Der Bubikopf war schneller als ich gewesen und stand jetzt vor mir. Nach dem Disput wollte ich freundlicher sein und fragte sie: "Sie sind aus dem Osten?" Eigentlich war es eine Feststellung. "Spielt das eine Rolle?" Oops! Ein Fettnapf, für Deutsche. Frage niemals jemanden nach seiner Herkunft oder Sprache!

Aus meinen zahlreichen Reisen durch die U.S.A. kannte ich das anders. Dort gehörte es zum Small Talk, Leute zu fragen: "Where are you folks from?" Und niemand vermutete dahinter einen Heckenschützen, der die Armbrust gespannt hatte, um den Befragten mit einem tödlichen Pfeil zu diskriminieren, wenn die Antwort nicht gefiel.

Genauso pikiert wie der Bubikopf hatte einmal eine Frau auf mich reagiert, die ich fragte, woher ihr Name stamme. Er begann mit einem "S", das als "sch" gesprochen wurde, und er endete auf "-kaya". Ich musste ihr erst klarmachen, dass ich mich für Sprachen interessierte, gerne Fremdsprachen lernte und nur Interesse dahinter stand, zu wissen, wo ich einen Namen verorten konnte. Dann entspannte sich diese Frau und erzählte mir, dass ihre Eltern Türken waren und die Endung "-kaya" häufig in türkischen Familiennamen vorkomme.

Was ist los in Deutschland, dass Menschen auf eine einfache Frage so empfindlich reagieren? Spielen Herkunft und Sprache eine Rolle?

"Nein", antwortete ich, "ich habe es an Ihrem Akzent gemerkt. Es interessiert mich nur." Die Abfertigung an der Kasse ging zügig. "Ich bin aus Ost-Berlin", ließ sie sich dann doch auf meine Frage ein. "Großartig! Ich kenne Berlin gut. Seit dem Mauerfall war ich jedes Jahr in Berlin Mitte, um zu verfolgen, wie es voranging."

"Sieht schlimm aus", meinte sie. "Sah damals noch schlimmer aus", erwiderte ich. Dann war sie dran, bezahlte ihren Was-auch-immer-Deal und schwebte davon.

Der Greis mit den Regalbrettern hatte, während ich mit dem Bubikopf sprach, fiebrigen Zustands im Gespann der galoppierenden Zeit hinter uns gestanden und einen Anruf auf dem Handy entgegengenommen. "Ich kann nix dafür, dass es an der Kasse so voll ist!" bellte er zurück. Vielleicht verkochte zu Hause gerade die Linsen- oder Kartoffelsuppe, denn es ging auf Mittag zu.

Einen Moment lang hatte ich überlegt, ihn vorzulassen, um diesen unangenehmen Kerl aus dem Nacken zu kriegen. aber dann sagte ich mir: "Nein!" Er hatte die Sache bis zum Ende auszulutschen. Seelenruhig legte ich meine beiden Päckchen, jedes nur sieben Zentimeter hoch und drei Zentimeter breit, zum Abrechnen hin, bezahlte sechs Euro und ein paar Zerquetschte und war aus der Sache raus. Klar: Es hätte unter günstigeren Umständen schneller gehen können. Aber wie ich aus Gesprächen der Belegschaft während des Wartens an der Kasse gehört hatte, waren einige Kollegen krank geworden. Die anderen mussten deren Arbeit abfangen.

Hätte der Greis gefragt, ob er vorgelassen werden darf, weil auf ihn eine kranke Frau, ein krankes Tier oder eine andere dringliche Aufgabenerfüllung wartet, hätte ihn jeder – und ich bin mir sicher: JEDER – vorgelassen. Meckern erzeugt hingegen Missmut und stößt ab. Aber das Meckern ist der Deutschen liebster Sport, dicht gefolgt von der Pflege des Oberlehrerfingers und dem dritten Platz, der Wette auf die "Salatschüssel".
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
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