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Alt 04.06.2023, 01:41   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard New Orleans

"Fertig?" Iris hängte sich ihre Handtasche um den Leib und legte sich eine Strickjacke über die Schulter. "Wir können los."

Ende Mai stieg die Temperatur in New Orleans bis auf neunzig Grad Fahrenheit bei einer extrem hohen Luftfeuchtigkeit von mehr als siebzig Prozent. In allen Gebäuden der Stadt wie auch in den Streetcars, Shuttles, Cabs und Ferrys liefen die Klimaanlagen auf Hochtouren, so dass Volker dazu geraten hatte, die Jacke mitzunehmen. "Die Amis stellen die Kisten dermaßen krass auf kühl, dass man sich den Tod holen kann."

Weil der altersschwache Aufzug des Hotels ewig brauchte, entschieden sich Iris und Volker für die Treppen, nahmen wie übermütige Kinder nur jede zweite Stufe und übersprangen die letzten drei mit einem Satz.

Die Nacht war so schwül, wie der Tag gewesen war, aber ohne den solaren Glutofen gut zu ertragen. Hand in Hand schlenderten Iris und Volker von der Decatur in Richtung Norden zu jener Zeile von New Orleans, wo um diese Zeit das Leben erwachte und der Puls der Stadt den Rhythmus zu schlagen begann: Bourbon Street.

Vor der legendären Preservation Hall, einem schäbigen Haus, in dem Jazz ohne Aussicht auf Schreibung in das Geschichtsbuch der Musik gespielt wurde, standen die Menschen Schlange. Wer in diesem Kessel gekocht werden wollte, musste sich früh anstellen, eine Menge Geduld mitbringen und damit rechnen, nicht mehr eingelassen zu werden, weil die Halle schon wenige Minuten nach dem Öffnen wegen zu vieler Besucher zu bersten drohte. Hartgesottene warteten trotzdem, bis die Glücklicheren genug hatten und wieder herauskamen. Dann wurden die nächsten aus der Schlange reingelassen. Damit konnte man die ganze Nacht verbringen. Und ein paar Nächte obendrauf, bis man es endlich geschafft hatte – oder nie.

Für Iris und Volker war die Preservation Hall kein Thema. Jazz verwöhnte ihre Ohren an allen Ecken und Enden. Hätten sie alle Etablissements aufgesucht, in denen improvisiert wurde, wären sie noch zur besten Breakfast-Zeit nicht am Ende der Bourbon Street angekommen.

Sie schoben sich durch die Menge. Ein Kind, dunkelhäutig und lockenköpfig, kaum zehn Jahre alt, legte einen Stepptanz hin, wie ihn Gene Kelly nicht besser hätte tanzen können. Ein Etablissement machte Werbung für Frauen, die in einem Schlammbett gegeneinander boxten, und aus einer Jodelhütte drang bayerische Volksmusik in die Ohren der Touristen. Ein Voodoo-Laden bot Anleitungen an, wie man mit Nadelstichen unliebsame Menschen unschädlich machen oder an ihnen Rache nehmen konnte.

Dann kamen Iris und Volker zu den Brüsten.

In Schaufenster eines Ladens für Souvenirs prangte ein Poster mit Zeichnungen aller weiblichen Brust-Typen, die bis dahin von Künstlern, Marketing-Graphikern oder sonstigen Leuten ausfindig gemacht oder erfunden worden waren. Iris war fasziniert. "So viele?"

Da war Volker schon eifrig dabei, die Auswahl zu taxieren: klein und groß, flach und üppig, seitwärts gerichtet oder geradeaus, stramm und weniger stramm, schlaff und schlaffer, mit kleiner Warze und großer Warze, mit dunkler Warze und blasser Warze …

Es waren an die fünfundzwanzig. Volker streckte den Zeigefinger aus: "Das sind deine."

Es waren nicht die Brüste, die Iris bis dahin von ihrem Spiegel bestätigt gesehen hatte. Für den Rest des Abends nahm sie Volker nicht mehr an die Hand und sprach kaum noch ein Wort mit ihm.

Als beide genug von der Bourbon Street hatten, gingen sie in die Brewery und kippten sich außer Bier allerlei Zeugs rein. Am nächsten Morgen fühlte sich Iris wie ein Stein. "Du bist ganz grün im Gesicht", sagte Volker "Meinst du, wir können fliegen?"

"Was hab ich getrunken?"

"Na ja, mit mir erst ein paar Bier. Dann Wein und zwei doppelte Cognac."

"Wenn ich saufen konnte, ohne daran krepiert zu sein, kann ich auch fliegen."

Iris begann ihren Koffer zu packen. "Okay". Volker packte ebenfalls. "Aber dass du mir nicht im Flugzeug kotzt!"

"Daran würde die Menschheit nicht aussterben. Fertig?"

Volker nickte. "Let's go."

11.06.2023
__________________

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