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Alt 17.05.2023, 10:57   #1
weiblich Ilka-Maria
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In meiner Jugendzeit entdeckte ich meine Leidenschaft für Sandalenfilme, die in den 50er Jahren noch regelmäßig in den Kinos gezeigt wurden. Sobald auf einem Plakat ein Muskelprotz abgebildet war, der einen schwarzen Stier bei den Hörnern packte, um ihn zu Boden zu zwingen, löste ich eine Kinokarte, kaufte eine Tüte Pfefferminzbonbons und machte es mir auf meinem Klappsessel bequem.

Sandalenfilme waren eine Spezialität des italienischen Kinos und wurden in den Studios von Cinecittà gedreht. Die Helden entstammten meistens der römischen und griechischen Mythologie und trugen Namen wie Herkules, Ursus, Achilles oder Odysseus. Häufig musste auch Maciste, eine Romanfigur des Schriftstellers Gabriele D'Annunzio, den Bedrängten der antiken Welt zu Hilfe eilen. Religiöse oder historische Figuren wie beispielsweise Samson, Goliath oder Hannibal standen hingegen seltener im Mittelpunkt. Etwas spöttisch könnte man sagen, dass diese Sandalenfilme für die Italiener das gleiche waren wie für die Amerikaner die sogenannten "Pferdeopern": nostalgische Heimatfilme.

Obwohl in diesen Abenteuergeschichten unbarmherzig mit Schwert, Lanze und Dreizack zugeschlagen und zugestoßen wurde, um die Bösen unschädlich zu machen, waren sie in den meisten Fällen für Jugendliche ab zwölf Jahren zugelassen. Gewalt war kein bedenkenswertes Thema, erst wenn Sex ins Spiel kam, bestand die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle) auf einer Freigabe frühestens ab sechzehn, manchmal sogar achtzehn Jahren. Weil die Sandalenfilme ohne Gemetzel nicht auskamen, konnte es also vorkommen, dass ich staunenden Auges zusah, wie Herkules aus Gründen effektiven Einsatzes mit einer Lanze zwei Gegner, die "rein zufällig" hintereinander standen, gleichzeitig durchbohrte. Oder wie mit einem einzigen Schwerthieb ein Arm samt eines Teils des Rumpfes, an dem er hing, abgetrennt wurde – selbstverständlich immer dem wenig bedauernswerten Antagonisten.

Jedes Genre bringt seine Superstars heraus, die es als Prototypen vertreten. Bei den Sandalenfilmen waren es ausgerechnet zwei waschechte Amerikaner, die in Herkules-Shorts und in Sandalen, die bis zum Knie mit Riemchen geschnürt waren, über die Leinwand geisterten: Steve Reeves und Mark Forest. Sie waren lausige Schauspieler, aber darauf kam es nicht an. Sandalenfilme waren schnell und billig gedrehte Massenware für den Ex- und Hopp-Konsum. Wen interessierte schauspielerische Feinarbeit, wenn es darum ging, einem Tyrannen Paroli zu bieten und ihm den ultimativen Stoß in die Schlangen- oder Löwengrube zu versetzen? Außerdem sahen beide Stars phantastisch aus, und das war bereits die Kinokarte von einer Mark dreißig wert.

Noch lausiger als ihr Schauspielvermögen – von "Kunst" kann man bei solchen Filmen wahrlich nicht reden – waren die Filmtricks. Meine erste Bekanntschaft mit diesem Genre war "Die Rache des Herkules", in dem einige Monster der lächerlichen Art auftraten: Da gab es Zerberus, den dreiköpfigen Höllenhund, der den Eingang zur Unterwelt bewachte, und ein merkwürdiges, dichtbehaartes Flugobjekt, das wie ein Mensch in einem rotbraun gefärbten Büffelfell mit angeklebten Plastikflügeln aussah. Den Höhepunkt bildete ein Zentaur, ein Pferdekörper, an dessen Hals der Rumpf eines Mannes montiert war. Wahnsinn! Ich war mächtig beeindruckt, denn so etwas hatte ich bis dahin nicht gesehen. In damaliger Zeit war das Auge nicht geschult, und bis zu Steven Spielbergs perfektionierten, computergestützten Effekten war noch ein langer Weg. Der Zuschauer nahm die Bilder, wie sie kamen, ohne zu fragen: "Wie haben die das gemacht?" Und Kindern konnte man – anders als ein paar Jahrzehnte später - erst recht noch eine Menge vormachen. Hauptsache, Herkules erledigte die Monster quasi aus dem Handgelenk.

Vor einigen Jahren habe ich "Die Rache des Herkules" auf youtube aufgespürt und geprüft, ob wenigstens noch ein Funken des damaligen Zaubers spürbar geblieben ist. Alle Monster haben mich meiner Illusionen beraubt, insbesondere der Zentaur, bei dem deutlich die Trennlinie zu erkennen gewesen ist, wo Mann und Pferd zusammengepappt worden waren.

Die Filmhelden hatten immer drei hehre Ziele: einen Tyrannen zu stürzen, ein Volk zu befreien und eine Frau aus den Klauen eines Monsters zu retten. Ein bisschen Liebe gehörte als Motiv für ein derart riskantes Unterfangen dazu, spielte aber eine unwesentliche Rolle. Frauen waren passive Wesen, keine Heldinnen, die selber aktiv wurden. Emanzipiert traten sie nur in den Rollen der Übeltäterinnen auf, wie die Zauberin Circe, die Odysseus zu verführen trachtet, oder die Tyrannengattin, die im Palast Intrigen spinnt, um ihre Position zu sichern.

Es war mal wieder das verpönte Hollywood gewesen, das der Welt zeigen musste, wie man intelligent mit antiken Stoffen umgeht, gute Schauspieler gewinnt und Filme schafft, die sich wahrscheinlich noch unsere Urenkel anschauen werden: Ben Hur (Alt- und Neuverfilmung), Die zehn Gebote (Alt- und Neuverfilmung), Das Gewand, König der Könige, Quo Vadis, Spartacus und einige mehr.

Selbst das polnische Kino hatte 1966 mit "Pharao" einen anspruchsvollen Monumentalfilm – die Langversion läuft 180 Minuten – zuwege gebracht.

Anfang der 60er ging die Ära des Sandalen- und des Monumentalfilms allmählich zu Ende. Den italienischen Kitsch wollte niemand mehr sehen, und den Amerikanern war die Finanzierung überlanger Filme zu teuer geworden, zumal sich die Studios in Hollywood im Niedergang befanden. Das Fernsehen machte dem Kino Konkurrenz, so dass man sich in der Filmbranche den Kopf zerbrach, wie den neuen Sehgewohnheiten des Publikums entgegenzukommen sei. Es sollte bis zu den 2000er Jahren dauern, ehe der Sandalenfilm mit Produktionen wie "300", "Gladiator" und "Troja" eine Renaissance erfuhr, die sich jedoch als ein Strohfeuer erwies.

An die Stelle der verschlissenen antiken Heroen trat in den 60ern wieder der Western, aber nicht der amerikanische, sondern der Italo-Western: Django, Spiel mir das Lied vom Tod, Meine Name ist Nobody. In Deutschland rollte die Karl-May-Welle. Beliebt waren die Edgar-Wallace-Serie und die Hitchcock-Thriller, vor allem aber die James-Bond-Filme, Abbild einer in West und Ost gespaltenen Welt.

Und dann kamen George Lucas und Steven Spielberg, die dem Action- und Abenteuerkino ein völlig neues Gesicht verpassten. Von nun an war die Filmproduktion ohne den Einsatz leistungsfähiger Computerprogramme nicht mehr denkbar. Mit den Siebzigern war eine neue Kino-Ära angebrochen, die uns je nachdem in Urwelten (Jurassic Park) oder zu fernen Planeten (Alien) brachten – aber mit welchen Tricks!
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