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Alt 05.04.2023, 17:48   #1
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237


Standard Die Erschütterung

Die Erschütterung

Die erste Erfahrung mit der Existenz wurde mir als Siebenjähriger zuteil, als eines Abends ich in meinem Bett lag und mein Vater etwas später von der Arbeit heimkehrte. Er berichtete uns von einer zufälligen Begegnung mit seinem Bruder, der am Rand der Stadt gerade eine neue Wohnung bezogen hatte und sie nun stolz uns zeigen wollte.

Mutter und Schwester waren begeistert von dem Vorschlag, ich hingegen dachte an die letzte Wohnungsbesichtigung zurück. Langes Stehen vor Möbeln und tapezierten Wänden, Reden über Dinge, die man nicht sehen konnte, da sie in der Zukunft erst noch entstehen oder gekauft werden sollten. Und dazu noch diese Gespräche, die ich nur teilweise verstand, diese Witze, über die ich nicht lachen konnte! Nein, bei aller Liebe und Respekt, ich wollte doch viel lieber hier im Bett bleiben, noch etwas in dem neuen Buch lesen, zur rechten Zeit die Lampe löschen und ganz alleine einschlafen.


Meine Eltern sahen einander fragend an. Sie wußten aus Erfahrung, daß müde und gelangweilte Kinder für Erwachsene mitunter recht anstrengend sein konnten, und so willigten sie schließlich zögernd ein.
„Du wirst doch keine Angst haben, solange wir weg sind?“ fragte sanft mich meine Mutter, beugte sich zu mir herunter und küßte mich zärtlich auf die Stirn. „Wir bleiben auch nicht lange!“
Angst? Oh, welcher Ort der Welt sollte sicherer sein als dieses Bett?
Mein Bett, eine Art Kiste oder Backtrog mit massiven Wänden zu allen Seiten, war es nicht meine Burg, mein Panzer? Und wie wohl fühlte ich mich doch darinnen, die Beine in der wohligen Wärme des Federbetts geborgen, den Rücken an die Stirnwand gelehnt, das weiche Kopfkissen als Polster dazwischen, und dazu mein fesselndes Buch auf dem Schoß. Endlich fiel die Wohnungstür ins Schloß, und ich begann zu lesen.

Die Geschichte handelte von zwei Kindern, Bruder und Schwester, die sich aus überschüssigem Bauholz eine primitive Holzhütte im Wald gebaut hatten und eines Tages Anzeichen dafür fanden, daß sie in ihrer Abwesenheit von einem Unbekannten aufgesucht wurde. Und die Spannung, sie wuchs, und die Neugier der Kinder wurde unerträglich, und so verlassen sie des Nachts heimlich die elterliche Wohnung, schleichen vorsichtig zu ihrer Hütte und überraschen dort einen kleinen Jungen, der in seiner Not, einen Unterschlupf zu finden, sich über Nacht dort eingenistet hatte. Der kleine Junge: ein entlaufenes Waisenkind.

Und plötzlich stockte mir der Atem, konnte ich nicht mehr weiterlesen. Eine schreckliche Angst nahm von mir Besitz, und zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich meine Existenz: ich, ein schwaches empfindsames Wesen, ausgesetzt in einer unheimlichen, beängstigenden Welt. Und dieses Unheimliche, das uns im Grunde immerzu umgibt, ich hatte es nur deshalb nie zuvor erfahren, weil die Atmosphäre einer liebenden Familie mich davor abgeschirmt hatte wie eine gläserne Kugel. Und nun war sie geplatzt, diese Kugel, wie eine Seifenblase, und ich war ganz allein in dieser Welt. Was würde denn nur aus mir werden, kämen Vater und Mutter nicht wieder?

Die Zeit verstrich unendlich langsam, die Uhr, sie schien wie stehengeblieben. Ihren Versprechungen nach hätten Vater und Mutter längst schon wieder hier sein müssen. Hatten sie einen Autounfall? Fielen sie einem Verbrechen zum Opfer? Lebten sie am Ende schon gar nicht mehr? Wie lächerlich, wie hybrid schien mir doch plötzlich mein eigensinniger Wunsch, allein und ungestört zuhause lesen zu wollen. Niemals wieder, so schien mir, würde ich das Vertrauen haben können, mich in Abwesenheit meiner Eltern selbstvergessen in einer Sache zu verlieren.

Zusammengekauert hockte ich dann im Schlafanzug auf dem mäßig breiten Fensterbrett des Schlafzimmers der Eltern und starrte in einem Wechselbad von Hoffnung und Verzweiflung in das unheimliche Dunkel der Welt jenseits der Fensterscheiben. Jedes plötzlich auftauchende Scheinwerferlicht eines nahenden Autos entfachte aufs Neu die Hoffnung, es könnten die Heimkehrenden sein, und jedes Mal wieder verlosch diese unter einem Strom von Tränen. Schluchzend betete ich zu Gott, flehte inbrünstig, er möge mir meine Eltern nicht so früh nehmen. Ich gelobte, all meine Sünden zu bereuen, jegliche Schuld wiedergutzumachen und künftig ein besserer Mensch zu werden. Es schien mir eine Ewigkeit, bis Gott endlich mein Gebet erhörte und mir meine Eltern wiederschenkte.

Nach dieser ersten verzweifelten Begegnung mit der Existenz kehrte das einstige vertraute, fraglose Einssein von Mensch und Welt zur Gänze nie wieder zurück. Mit anderem Blick sah ich nun die Menschen, die sich in dieser Welt behaupten mußten. Und kamen wir zufällig an einem Waisenhaus vorbei oder begegneten uns Kinder auf der Straße, denen man ansah, daß sie in einem solchen wohnten, so rührte sich wieder dieses leise Grauen in mir, und entschlossen ergriff ich die große warme Hand meines Vaters an meiner Seite.
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