Frau H.

[Ilka-Maria]

In den 60er Jahren bekam meine Schule eine eigene Turnhalle. Davor fand der Sportunterricht auswärts statt, was einen Karawanenweg von jeweils zweimal zehn Minuten kostete, der von der Unterrichtszeit wegfiel.

Ein Teil des Schulhofs war ein Jahr lang eine Baustelle, von der viel Sand auf den Pausenhof geweht wurde, auf dem beim Spielen immer wieder Schüler ausrutschten und ihre Knie auf dem harten Untergrund in eine blutige Masse verwandelten.

Gegenüber der Schule befand sich die Praxis des Dr. Pils, der mit dem Phänomen nach wenigen Wochen vertraut war. Nachdem es mich auf der Sandschlitterbahn auch erwischt hatte, schickte mich meine Klassenlehrerin dorthin, und ich verbrachte fast zwei Stunden mit Warten, bis ich zur Behandlung aufgerufen wurde, der Arzt mir von seiner Sprechstundenhilfe eine Salbe auf die pochende und blutklumpige Wunde streichen und das Knie verbinden ließ.

In diesen beiden Stunden hatte ich meine Lieblingssendung "Lassie" verpasst, weshalb ich nicht nur den Arzt, sondern auch die Turnhalle hasste, bevor sie fertiggestellt war.

Als sie endlich stand und mit allen Finessen ausgestattet war, von den Schwingringen bis zum Seitpferd, Reck und Stufenbarren, bekamen wir eine Sportlehrerin namens H., die uns "Keulenschwingen" und "Barrenbalance" beibrachte und uns auf dem Klavier dazu den Rhythmus klimperte. Derweil wurde die Halle durch einen Ziehharmonika-Vorhang zweigeteilt, weil die beneidenswerten Jungs in der anderen Hälfte Fußball spielten.

Nicht alle Mädchen waren von dem geschlechtsspezifischen Angebot des Tänzerischen begeistert und entzogen sich der Teilnahme am Sport, indem sie angaben, ihre "Tage" zu haben. Manche hatte sie auffallend oft. Bei ihrer Entschuldigung machte eine Mitschülerin den Fehler, Frau H. mit "Fräulein H." anzusprechen, weil wir damals an der Schule viele Fräulein-Lehrerinnen hatten. Frau H. reagierte spitz: "Ein Fräulein bin ich schon lange nicht mehr." Diese Information kann man auswerten, nach welchen moralischen oder traditionellen Kriterien auch immer. Die Schülerin, der dieser Fauxpas unterlaufen war, nahm es als Zurechtweisung und versenkte ihren Kopf zwischen den Schultern.

Im Turnen an den Geräten war ich eine Null. Je älter ich wurde, desto wenige traute ich mir zu, und desto weniger vertraute ich den Geräten. Aber ich war ein As im Mannschaftssport und konnte mich deshalb mit einer stolzen Drei ins Abgangszeugnis retten.

Frau H. sah ich Jahre später im Fernsehen wieder. Sie war als Begleitung ihres Mannes, des Herrn Dr. Hans H., der die Wetterkarte im ZDF moderierte, in einer Peter Frankenfeld-Show zu Gast. Frankenfeld gab in der Show die Wetterkarte in allen deutschen Dialekten zum Besten. Worauf sich Dr. Hans H. köstlich amüsierte, denn Frankenfelds Vorstellung war perfekt. Aber unsere ehemalige Sportlehrerin gab ein peinliches Bild ab: Sie klatschte in die Hände, als hätte ihr ein Dirigent Zeichen gegeben, die Becken aneinanderzuschlagen. Dabei warf sie ihren Kopf in den Nacken und legte ein monströses Grinsen auf. Diese kleinformatige Sportlehrerin sonnte sich im Glanz ihres populären Gatten.

Bis heute bin ich mit dieser Zicke nicht versöhnt, die mich nicht dazu bringen konnte, über die obere Sprosse des Stufenbarrens zu springen. Warum gab sie mir keine Hilfestellung, um Selbstvertrauen zu gewinnen? Statt dessen machte sie mir Angst, und als sie mich nicht überzeugen konnte, von selbst zu springen, gab sie mich auf.

Aber warum sollte ihr etwas an einer Berufung gelegen haben? Sie hatte einen Ehemann, in dessen Spotlight sie stand und auslandend in die Hände klatsche konnte.