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Alt 17.04.2023, 10:39   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Sammy

Meine Finger hielten inne, auf die Tastatur einzupicken. "Stimmt etwas nicht?" Beate stierte reglos an mir vorbei, als fixiere sie die Wand hinter mir. Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, dass sie mich nicht gehört hatte. "Hej, Beate!" Sie schaute mich verwirrt an. "Entschuldige, was … was hast du gesagt?"

Ich konnte meine Frage nicht wiederholen, denn in diesem Moment stürmte Franziska in unser Büro und plärrte los: "Hallo, Mädels. Die haben im Materiallager mal wieder vergessen, Ordner zu bestellen. Kann ich einen von euch schnurren?" Ich stand auf und zog einen nagelneuen Ordner aus meinem Regal. "Hier", zischte ich sie an. "Verschwinde und lass dich heute nicht mehr bei uns blicken." Sie verzog beleidigt das Gesicht, erwiderte aber keinen Ton und rauschte ab.

"Mal wieder zu bequem gewesen, in die Katakomben zu gehen und sich selber einzudecken. Dabei täten ein paar Schritte mehr ihrer Figur gut." Beate, die Franziska von jeher auf dem Kieker hatte, fiel dieses Mal nicht in meinen Missmut ein. Ihre Wahrnehmungsfähig schien völlig auf ihr Inneres gerichtet zu sein. Ich ging um unsere Schreibtische herum und legte ihr die Hand auf die Schulter. "Jetzt sag schon, was du hast."

Ihre Augen füllten sich mit Nässe. "Nicht hier und jetzt", flüsterte sie, "sonst fange ich an zu heulen. Gehst du mit mir in der Mittagspause einen Kaffee trinken?" Eigentlich hatte ich ein paar Einkäufe geplant, aber unsere Freundschaft ging vor. "Klar doch. Zu Lambert?" Sie nickte, und ich ging an meinen Schreibtisch zurück. Aber ich war um Beate zu besorgt, um mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren zu können.

Bei Lambert bestellten wir Cappuccino und für mich ein Schokocroissant, Beate hatte hingegen auf nichts Appetit. Ein paar Minuten saßen wir schweigend, um uns zu entspannen. Ich wollte sie nicht drängen. "Es ist wegen Sammy", begann sie schließlich. "Er hatte ja schon immer seine Mucken, aber seit einigen Tagen übertreibt er es."

"Mucken und Macken sind aber zweierlei. Wie sieht sie denn aus, die Übertreibung?"

"Er bildet sich in letzter Zeit ein, seine Zähne würden ihm ausfallen. Er putzt sie in einer Tour, nicht nur morgens und abends oder nach dem Mittagessen, sondern fast jede Stunde."

"Bekommst du Rabatt auf Zahnpasta?"

Beate sah mich vorwurfsvoll an. "Mach keine Witze! Du hast keine Vorstellung davon, was er sonst noch veranstaltet?" Ich sah sie auffordern an, und sie fuhr fort. "Er wollte heute verreisen, um seinen Bruder ein paar Tage in München zu besuchen. Hatten die beiden vor langem verabredet. Gestern hat Sammy seinen Koffer gepackt, aber heute früh ist er im Bett liegengeblieben und hat von mir, verlangt seinen Bruder anzurufen und den Besuch absagen. Er könne nicht fahren, denn ihm würden die Zähne verrotten, und so wolle er sich nirgendwo sehen lassen."

Ich presste die Lippen zusammen, um nicht loszuprusten. "Und diese Spinnerei macht dir Sorgen? Der wird schon wieder einrasten, wenn er merkt, dass ihm die Zähne nicht verfaulen."

"So etwas in der Art habe ich auch gesagt, und da ist er aus dem Bett gesprungen und regelrecht auf die Palme gegangen. Ist in die Küche gestürmt und hat das Fleischermesser aus der Schublade geholt. Mir ist fast das Herz stehengeblieben, als er damit zurückkam. Ich dachte, ich sei geliefert. Aber statt dessen ist er auf den Koffer losgegangen, hat wie ein Berserker auf ihn eingestochen und den Deckel aufgeschlitzt. Dann hat er seine Klamotten rausgezogen und sie kreuz und quer ins Schlafzimmer geworfen. Völlig sinnlos."

Mir war der Drang, über Sammys Wahnvorstellung zu lachen, vergangen. "Das ist total verrückt." In Beates Augen funkelte Spott. "Was du nicht sagst!" Sie winkte der Bedienung, um uns zwei weitere Cappuccino zu bestellen. Und zwei doppelte Cognac. "Für mich nicht", wandte ich ein, doch Beate beharrte darauf. "Wenn du ihn nicht willst, kippe ich den auch noch runter. Ist doch egal."

"Fang jetzt bloß nicht das Saufen an. Damit löst man keine Probleme."

"Damit löst man keine Probleme, bla, bla, bla", äffte Beate mich nach. "Hast du eine bessere Idee?"

"Erzähl erst mal weiter. Hast du Sammys Bruder abgesagt und ihm erzählt, wie er sich aufgeführt hat?"

Beate schüttelte den Kopf. "Der wird schon merken, wenn Sammy nicht kommt. Was hätte ich ihm denn erzählen können? Am Ende denkt er, dass ich es bin, die durchdreht und sich Geschichten einbildet. Das ist so absurd … wer soll mir das denn abnehmen"?

"Na, ich."

"Warte ab, es geht noch weiter. Nachdem Sammy sich am Koffer ausgetobt hatte, hat er das Fenster aufgerissen, die Passanten mit ausgestrecktem Zeigefinger ins Visier genommen und getan, als würde er mit einer Pistole auf sie schießen. Dabei hat er 'Peng! Peng!' geschrien – wie ein kleines Kind, das seiner Wut auf die Erwachsenen freien Lauf lässt. Und dann hat er einen der Passanten angebrüllt: 'Warum fällst du nicht tot um, du Idiot?' Ich habe mächtig Angst gekriegt, und da habe ich meinen Mantel und meine Handtasche genommen und bin fortgerannt."

"Und jetzt sitzt du hier und weißt nicht, was du tun sollst."

Beate nickte und griff nach dem zweiten Cognac. "Du willst ihn wirklich nicht?" Ich schüttelte den Kopf, und sie leerte den Schwenker in einem Zug. "Sammy ist doch nicht plemplem … oder?"

"Ich fürchte doch, Beate. Du musst mit seinem Arzt darüber sprechen."

"Wegen Angst vor morschen Zähnen und Cowboy-Spielchen am Schlafzimmerfenster? Das ist lächerlich."

"Ein Fleischermesser ist alles andere als lächerlich. Dein Mann scheint an einer handfesten Phobie zu leiden." Ich zog meinen Wohnungsschlüssel aus meiner Handtasche. "Hör zu: Du gehst nicht mehr ins Büro zurück. Dem Boss werde ich eine Entschuldigung für dich auftischen. Mach es dir bei mir zu Hause bequem und entspanne dich. Ruf deinen Hausarzt an und schildere ihm die Lage." Ich bemühte mich, autoritär zu klingen. "Du bleibst die Nacht über bei mir, bis wir wissen, wie es weitergehen soll. Verstanden?"

Vom Alkohol enthemmt begann sie zu weinen und nahm mein Schlüsselbund. "Du hast recht."

Wir umarmten uns zum Abschied und gingen getrennte Wege. Doch als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, war Beate nicht da. Ich tippte ihre Nummer auf meinem Mobilphone an – keine Antwort. "Verdammter Mist!"

Am nächsten Morgen erschien sie nicht im Büro. Immer noch keine Antwort auf meine Versuche, sie auf ihrem Mobilphone zu erreichen. Gegen elf Uhr erschien der Boss und legte mir eine Akte zur Bearbeitung auf den Schreibtisch. "Übrigens", meinte er, "Herr Blank hat angerufen und mich informiert, dass seine Frau bis auf weiteres nicht zur Arbeit kommen kann."

"Hat er gesagt, weshalb?"

"Nicht konkret. Nur dass es ihr extrem schlecht geht, und wahrscheinlich für sehr, sehr lange Zeit."

"Ist Beate krank?" Eine vage Hoffnung, so unerfüllbar wie der Wunsch nach ewigem Glück.

"Ich hab doch gesagt: Es gibt nichts Konkretes Ich weiß es nicht."

Aber ich wusste es. Als der Boss in seinem Büro verschwunden war, wählte ich die Nummer der Polizei.

17.04.2023
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.04.2023, 11:52   #2
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... olala, klingt ein wenig zeitlich verdichtet. Erscheint mir kaum glaubhaft, dass solche Sachen von heut auf morgen passieren, aber angesichts der künstlerischen Freiheit und der gut geschriebenen Story lassen wir dies gelten.

beaux rêves
dT
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.04.2023, 12:42   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Erscheint mir kaum glaubhaft, dass solche Sachen von heut auf morgen passieren, ...T
Wie schwierig es zu glauben ist, dass eine zunächst im neurotischen Bereich angesiedelte und eher für harmlos gehaltene Paranoia über Nacht in ein exzessives Verhalten umschlagen kann, habe ich in der Geschichte anklingen lassen, dunkler Traum. Allerdings habe ich so ein Umkippen ins Exzessive in der Realität am lebenden Beispiel selber beobachten können. Du ahnst nicht, was die Angst, wenn sie übermächtig wird, mit einem Menschen anstellen kann.

Natürlich gibt es eine Entwicklungsgeschichte, doch in den meisten Fällen kommen die Menschen, sowohl die Betroffenen wie ihre Umgebung, mit einer Neurose zurecht. Wenn dann aber eine stark fortschreitende Demenz dazukommt oder ein Schockerlebnis, kann das sehr schnell in eine Psychose umschlagen. Für die Schilderung einer Vorgeschichte ist aber eine Kurzgeschichte nicht geeignet, das kann man in einer Erzählung oder Novelle machen. Kurzgeschichten engen den Zeit-, Orts- und Handlungsspielraum hingegen ein und sollten nur wenige Protagonisten enthalten.

Letztendlich ist es immer eine va-banque-Sache, ob eine Geschichte beim Leser glaubwürdig ankommt oder nicht.

Immerhin: Du hast sie offensichtlich vollständig gelesen und deine Meinung abgegeben. Das bringt mir als Autorin immer etwas. Vielen Dank dafür.

Liebe Grüße
Ilka
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.04.2023, 06:55   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo Ilka,

ich habe rein stilistisch etwas zu meckern, ich finde diesen Absatz

Zitat:
. Ich konnte meine Frage nicht wiederholen, denn in diesem Moment stürmte Franziska in unser Büro und plärrte los: "Hallo, Mädels. Die haben im Materiallager mal wieder vergessen, Ordner zu bestellen. Kann ich einen von euch schnurren?" Ich stand auf und zog einen nagelneuen Ordner aus meinem Regal. "Hier", zischte ich sie an. "Verschwinde und lass dich heute nicht mehr bei uns blicken." Sie verzog beleidigt das Gesicht, erwiderte aber keinen Ton und rauschte ab.
völlig überflüssig.
Franziska spielt für die Geschichte überhaupt keine Rolle, und die Begebenheit mit dem Ordner auch nicht.

Natürlich sollte dieses Zwischenspiel nur zu dem Gespräch mit Beate hinführen, aber ich finde, das ginge auch ohne diesen Absatz bzw. in anderer Form.

LG DieSilbermöwe
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Alt 18.04.2023, 07:10   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
... ich finde diesen Absatz
völlig überflüssig.

Mit diesem Einwand hatte ich gerechnet. Und auch damit, dass er von dir kommt

Ja, stimmt. Hätte man weglassen können. Trägt lediglich zur Atmosphäre bei, aber nicht zur Handlung.

Hast du gut erkannt.

Liebe Grüße
Ilka
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Alt 18.04.2023, 16:28   #6
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Zitat:
. Hast du gut erkannt.
Danke
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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