Ostzone

[Ilka-Maria]

1958. Drei Tage vor dem ersten Advent packte Mutter ein Päckchen mit Haltbarem: Zucker, Schokolade, Dauerwurst, Tütenkram. Es gab eine Liste für Erlaubtes. Was geschickt werden durfte, füllte nicht mehr als einen Schuhkarton. Und ab ging die Post!

Mutters Cousine schrieb zurück: "Lieben Dank!"

Von einem zweiten deutschen Staat sprach niemand. Der andere Teil Deutschlands war die Ostzone, auch dann noch, als die Bundesrepublik und die DDR gegründet waren. Meine Mutter, die in Stettin geboren war und eine Teil ihrer Jugend in Binz auf Rügen verbracht hatte, trauerte ihr Leben lang um ihre Heimat, die nach 1945 polnisch wurde. Zunächst redete man über den polnischen Korridor, ehe dieser Streifen Ostgebiet, zu dem Stettin gehörte, den Polen als Reparation für das Leid überließ, das ihnen die deutsche Wehrmacht angetan hatte.

Wir sammelten auch in der Schule für Päckchen in die Ostzone. Kontakt halten war die Devise. Jeder Schüler brachte etwas mit, das mehrere Päckchen füllte. So ging es ein paar Jahre, vor allem zu Ostern und an Weihnachten. Wir Kinder verstanden nicht, was da vor sich ging, sondern bekamen nur das Gefühl, etwas Gutes zu tun, zu dem wir verpflichtet waren. Dabei gab es auch bei uns Schüler, deren Eltern arm waren und für die der Beitrag einer Tüte Zucker ein Opfer war.

Westdeutschland war weniger reich, als von außen vermutet. Die Männer schufteten im Akkord, und zwar von Montag früh bis Samstag mittags. Der Lohn hing von der Stückzahl ab. Meinem Vater ruinierte die Arbeit den Rücken, als er noch nicht vierzig war. Vorausgegangen waren Fabrikarbeit, der Krieg, in den er mit siebzehn Jahren eingezogen wurde, der Kampfeinsatz n Russland und die Gefangenschaft in einem englischen Lager in Ägypten.

Mutter schickte weiter Päckchen an ihr Cousine in der Ostzone, und immer kamen Briefe zurück, in denen in jeder Zeile "lieb" stand.

Dann gingen die fünfziger Jahre zu Ende, und Mutter schrieb: "Ich kann nichts mehr schicken. Die Preise steigen, und das Leben ist härter geworden."

Von da an blieben die "Lieb"-Briefe aus.

[Heinz]

Liebe Ilka-Maria,
ich könnte deine Erfahrungen ergänzen, z.B. mit dieser kleinen Geschichte:
Thüringen, du weißt es, ist mein Heimatland und ich habe jeden Urlaub genutzt, um dorthin zu fahren. Ein Anruf genügte, um mir das Domizil zu Füßen des Fuchsturms, das komfortable Gartenhaus meines Onkels zu sichern. Nach der Wiedervereinigung wollte ich mit Tochter, Schwiegersohn und Enkelin genau da ein fröhliches Fest feiern, aber leider, leider war das Gartenhaus an andere Besucher vergeben, vergessen wahrscheinlich auch, dass ich zu DDR-Zeiten (neben den üblichen Paketen) den Überschuss meines Arbeitsverdienstes in Bautzen (knapp 10.000 Mark) an die Gartenbesitzer überwiesen hatte, den Sohn das Absitzen einer längeren Gefängnisstrafe erspart, dem anderen Sohn samt Frau und zwei Kindern eine Wohnung kostenlos zur Verfügung gestellt habe. Als westdeutscher Verwandter war ich stets willkommen, als gesamtdeutscher Neffe überflüssig geworden.
Liebe Grüße,
Heinz

[Ilka-Maria]

Wenn es nur ums Geld gegangen wäre, Heinz!

Ein mir befreundetes Ehepaar schikanierte man beim Grenzübertritt, indem man es im strömenden Regen draußen stehen ließ, den Kofferraum seines Wagens ausräumte, die Hintersitze ausbaute und den Inhalt der Koffer auskippte. Auf dem Rückweg nochmal die gleich Prozedur.

Meine Meinung war immer: "Was fahrt ihr dorthin und lasst eure Devisen dort für Dinge, die kein Mensch braucht?" Zu kaufen gab es nämlich in der Tat nichts. "Mit Almosen ist niemandem geholfen. Die Ostdeutschen müssen selber sehen, wie sie da raus kommen. Rebellion findet von innen statt, nicht von außen."

Dann hörte ich mir an: "Wie kann man nur so hartherzig sein! Wenn Sie Vater und Mutter drüben hätten, ..." usw. usf. Nicht selten kamen solche Vorwürfe von Kollegen, die ihr Geld in einem Sparprogramm mit "Berlinhilfe" angelegt hatten. Damit sparte man Steuern. Kann sich daran noch jemand erinnern? Lief bis 1964.

Der Rest dürfte bekannt sein.