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Rollenspiele und Bühnenstücke Eigene Bühnenstücke, Rollenspiele und Dialoge.

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Alt 24.06.2022, 17:00   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Familie (?)

„Wir sind eine komische Familie.“ Uwes Worte durchzog ein Hauch von Bitterkeit. „Man sieht sich kaum und wird sich immer fremder.“

„Stimmt,“ pflichtete ich bei. „Niemand will mit dem anderen zu tun haben. Jeder kocht sein eigenes Süppchen, man misstraut einander, und jeder redet über den anderen schlecht, soweit er dessen Existenz überhaupt wahrnimmt.“

„Die Alten haben versagt,“ konstatierte Uwe. „Sie haben es nicht verstanden, die Familie zusammenzuhalten.“ Obwohl mir klar war, dass er unsere Eltern und Großeltern meinte, sah ich mich mit ihnen auf der Anklagebank sitzen, denn zu diesen Alten gehörte ich, zehn Jahre älter als Uwe, inzwischen auch. Ich versuchte, seinen Vorwurf aus seiner Perspektive zu betrachten und nach Gründen zu forschen, die ihn rechtfertigten. Aber je mehr ich darüber nachdachte, umso weniger Stichhaltiges konnte ich greifen. „Kannst du dir vorstellen, dass es nicht die Alten waren, die versagt haben, sondern dass es die Jungen sind, die gerade versagen?“

In Uwes Gesicht trat Überraschung. „Wieso? Wie meinst du das?“

„Willst du das wirklich wissen? Um dir das zu erklären, müsste ich in meiner Erinnerung weit zurückgehen, aber nach meiner Erfahrung winken die Jüngeren nur ab, wenn man von den alten Zeiten erzählt.“

„Wenn ich mir dadurch einen Reim darauf machen kann, warum die Dinge so liegen …“ Er ging zum Kühlschrank und fischte nach einer Flasche Weißwein. „Eine kleine Unterstützung zur Wahrheitsfindung,“ sagte er und goss unsere Gläser voll. „Schieß los!“

„Als ich heranwuchs, lebte der größte Teil der Familie im selben Stadtviertel. Meine Eltern gingen arbeiten, so dass ich nach der Schule auf mich allein gestellt war, aber ich musste nur sechs Minuten laufen oder zwei Minuten lang in meinen Roller treten, um bei Omi und Opa zu sein. In knapp zehn Minuten zu Fuß war ich in der Innenstadt, wo Oma wohnte. Auch sie musste arbeiten, deshalb besuchte ich sie oft im städtischen Depot, wo sie die Busse und Straßenbahnen putzte. Das lag zwar weiter weg, aber ich kannte mich in dieser Gegend gut aus, weil meine Mutter in der Nähe des Depots ein paar Jahre lang als Haushaltshilfe und Kinderfrau bei einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie arbeitete und mich in den Schulferien dorthin mitnahm. Aber meistens blieb ich in unserem Viertel und spielte dort mit den Kindern. Oder ich besuchte eine meiner Tanten und Onkel. Gleich um die Ecke, gegenüber meiner Schule, wohnten meine Paten, und in derselben Straße wie wir, nur einhundert Schritte weit weg, wohnte der älteste Bruder meiner Mutter mit seiner Familie. Mit ihrem Sohn Peter, der vier Jahre jünger war als ich, stellte ich allerhand Unsinn an. Wir ärgerten eine zänkische Alte, die sich ständig über Peter beklagte, begruben im Hof einen toten Vogel und spazierten zum Weiher im Wald, um Kaulquappen zu fangen.“

Uwe hatte mir aufmerksam zugehört, bis ich ausgeredet hatte. „Was willst du damit beweisen?“

„Ich will deine Beschwerde widerlegen, Uwe. Ich war zwar ein Schlüsselkind, weil meine Eltern arbeiten gehen mussten, aber die Familie war vorhanden. Es gab für mich eine Vielzahl offener Türen, durch die ich jederzeit gehen konnte, und hinter jeder dieser Türen war ich zuhause. Sogar bei der Mutter meiner damals besten Freundin, die im selben Haus wie Oma wohnte, war ich willkommen und durfte am Mittagessen teilhaben. Ich fühlte mich heimisch und behütet. Alles um mich herum war warm und herzlich.“

Uwe runzelte die Stirn. „Aber so ist es heute nicht mehr.“

„So ist es heute nicht mehr. Aber du und die Angehörigen deiner Generation haben nichts anderes zu tun, als es an den sogenannten ‚Alten‘ festzumachen. Der berüchtigte Balken im eigenen Auge! Die Alten, die euch in Watte gepackt und euch Tore zu Wegen geöffnet haben, die sie selbst nicht gehen konnten, sind schuld, dass ihr heute euren Frust darüber pflegen könnt, dass man euch nicht das ganze Stroh sofort zu Gold gesponnen vor die Füße gelegt hat.“

„Das ist ungerecht. Jeder Mensch lebt in seiner Zeit. Und wir sind in eine andere Zeit hineingeboren worden.“

„Stimmt. In eine Zeit der Abrechnung mit einer Generation, die selber gerne ihre Abrechnung mit denjenigen gemacht hätte, die ihnen einen Teil ihres Lebens weggeschnitten hatten. Aber dazu war weder genügend Energie vorhanden, noch wurden Autoritäten derart massiv in Frage gestellt, wie es heute der Fall ist. Zumindest galt das für die sogenannten ‚kleinen Leute‘, zu denen unsere Familie gehörte. Die ‚Stunde null‘ war deren Problem, nicht das Problem der dicken Fische, die als Gewinner aus dem Krieg herauskamen und mühelos in die Aufbauzeit eingetaucht sind. Trotzdem setzte sich in den Köpfen der Menschen fest, dass es ihren Kindern besser gehen sollte als ihnen, und dafür legten sie sich krumm.“

„Was hast du mir eigentlich vorzuwerfen?“, ging Uwe in die Verteidigung.

„Nichts“, antwortete ich. „Die Vorwürfe kommen von deiner Seite. Du beklagst, dass Familie nicht mehr stattfindet. Dann arbeite daran! Trommele die Familie zusammen! Lass dir etwas einfallen! Was schaust du nach rückwärts auf Menschen, die längst im Grab verrotten und die du dafür verantwortlich machen willst, dass die Verwandtschaft in alle Welt verstreut ist und sich einer für den anderen nicht mehr interessiert? “

Er zuckte die Schultern. „Aber wie? Die jungen Leute von heute …“

„—sind genau wie du und ich, als wir jung waren. Sie wollen ausprobieren. Das dürfen sie auch. Mit einigen Versuchen werden sie scheitern, das gehört dazu. Halte deine Türen offen, damit sie die Chance haben, zurückzukehren. Früher hat das funktioniert, und was in Jahrtausenden gewachsen ist, kann über Nacht nicht seine Gültigkeit verloren haben.“

„Du meinst also …“

„Was ich meine, kann ich dir genau sagen: Wenn eine Katastrophe hereinbricht, wenn es hart auf hat geht, wird die Familie zusammenstehen, und zwar von der Großmutter bis zum Urenkel. Dann ist man füreinander da, selbst wenn man den einen oder anderen am Vortag hätte umbringen mögen. Am Sprichwort, Blut sei dicker als Wasser, ist nämlich viel dran.“

„Das hört sich darwinistisch an.“

„Ist es auch. So funktioniert die Menschheit.“

„Aber unsere Familie nicht.“

„Doch. Sie funktioniert. Ich war bei der Beerdigung deiner Mutter dabei, im einem Schneesturm, für den ich einen zu dünnen Mantel und die falschen Schuhe trug, weshalb mir die Kälte bis in die Knochen fuhr. Ich trug ein schweres Blumengesteck durch diesen Schneeregen, saß danach in einem Kühlhaus von Trauerhalle und ließ während der Grablegung bei weiterem Schneefall nochmal eine zwanzig Minuten lange Rede der Pfarrerin über mich ergehen. Ich war halb erfroren, als die Zeremonie zu Ende war, aber es war die letzte Verbindung mit meiner Tante, ehe sie der Erde übergeben wurde. Da wurde ein Abschnitt meines Lebens begraben, nämlich eine lebens- und kampflustige Frau, die als Twen mit ihrer Schönheit die Männer verrückt machte und mich, als ich Kind war, mit ihren Launen und ihrer Herrschsucht derart malträtierte, dass ich sie in die Hölle hätte verfluchen mögen. Es war ein grauenhafter Vormittag auf einem in Eis gepacktem Friedhof. Aber das ist Familie.“

Uwe wurde nachdenklich. „Ich glaube, dass ich allmählich verstehe, was du meinst.“ Dann blicke er auf. „Aber wie soll man die Familie zusammenhalten, wenn alle irgendwo anders leben?“

„Das“, gab ich zu, „ist in der Tat ein Problem. Es fing schon an, als ich noch ein Teenager war, dass die Familie auseinanderdriftete. Plötzlich sehnte sich jeder nach einem ruhigeren Domizil in einer kleineren Stadt oder auf dem Land. Der Wohlstand machte es möglich. Man konnte sich inzwischen ein Auto leisten, Entfernungen spielten keine Rolle mehr. Früher nahmen wir die Fahrten noch auf uns, um Onkel und Tanten zu besuchen, aber die Generation nach mir verlor daran immer mehr das Interesse.“

„Warum?“

Ich zuckte die Schultern. „Ich habe nur eine theoretische Erklärung. Die Jugend stellte alles Traditionelle in Frage. Ostern und Weihnachten wurden als verstaubt abgetan, Geburtstage waren nichts Besonderes mehr, denn man konnte jederzeit feiern, wonach man Lust hatte, und vor allem wollte man sich von Pflichten und Zwängen befreien. Das hatte seinen Preis.“

Uwe war nachdenklich geworden, sagte aber nichts darüber, was in seinem Kopf vor sich ging. „Und außerdem, „fuhr ich fort, „scheint vielen Menschen nicht bewusst zu sein, wie ambivalent sie leben.“

„Inwiefern?“

„Auf der einen Seite wollen sie individuell sein, frei leben und, wie man so schön sagt, ‚sich selbstverwirklichen‘, also von der Masse abgrenzen“. Auf der anderen Seite unterwirft sich jeder der Mode und scheut nicht davor zurück, seinen Körper mit Piercing und Tätowierungen zu entstellen. Im öffentlichen Leben akzeptieren sie die Political Correctness und trauen sich kaum noch, den Mund aufzumachen, aber im Internet wird unter dem Schutz der Anonymität vom Leder gezogen, dass es kracht. Proteste gegen Krieg und Waffenlobby sind an der Tagesordnung, aber gleichzeitig wird die Gewalt dort, wo sie ausbricht, immer brutaler. Man begnügt sich nicht mehr, jemanden niederzuschlagen, sondern tritt noch zehnmal nach, bis man nur noch einen sterbenden, blutigen Haufen vor sich hat. Die Hemmschwellen werden immer niedriger, aber wenn du den einzelnen Menschen befragst, hält er sich für den besten und anständigsten unter dem Himmel.“

Uwe schwieg, und ich meinte fast zu hören, wie es in seinem Kopf ratterte. Inzwischen hatten wir die Weinflasche geleert. „Aber wir kommen vom Thema ab,“ sagte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Alles hängt mit allem zusammen.“

Als ich mich eine halbe Stunde später von ihm verabschiedete, sagte er: „Ich danke dir. Ich bin sicher, dass ich in den nächsten Tagen ein paar Anrufe erledigen werde.“

Ich nickte ihm kurz zu. „Frohe Ostern.“ Dann trat ich in die milde Nachtluft hinaus. Es hatte zu regnen begonnen, und aus dem Boden des Vorgartens, in dem gelbe und lila Krokusse leuchteten, strömte der Duft von Fruchtbarkeit.
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