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Alt 20.10.2022, 11:42   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Nach Jahr und Tag ...

Nach Jahr und Tag … zufällig, überfallartig, unfair …

Ein Blick wie ein Blitz, der die Infrastruktur eines Lebens aus dem Gleichgewicht bringen kann.

Ihr Blick, sein Blick. "Er hat mich wiedererkannt!" Es stand ihm in die Falten seiner Stirn geschrieben, die sich sekundenschnell gebildet hatten, und es zeigte sich in seinen hochgezogenen Augenbrauen und im schnellen Wegschauen, dorthin, wo die Tomaten lagen.

Doch genauso schnell, wie Karstens Blick abgewandert war, kam er zurück und blieb auf Evelyn haften. Auch sie hatte versucht, seiner Wahrnehmung zu entgehen, konnte aber ihre Augen nicht von ihm abwenden. Es war zu spät, sich aus dem Weg zu gehen.

Sie ging auf ihn zu und deutete auf seinen Einkaufswagen. "Für deine Kinder?" Er schüttelte den Kopf. "Für mich. Wie geht es dir?" Statt auf seine Frage zu antworten, griff sich Evelyn die Packung Cornflakes. "Du hast sie nie gemocht." Ihr Blick fiel auf den Tetra-Pack Milch. "Und Milch schon gar nicht."

Karsten lächelte dünn. "Jetzt mag ich sie. Hab's von meiner Tochter gelernt. Die ist allerdings weg. Und ihre Mutter hat sie mitgenommen."

"Getrennt? Oder geschieden?"

"Geschieden. Seit drei Jahren. Und du?"

"Single. Seit einem Jahr." Sie lachte verlegen. "Ungefähr jedes Jahr werde ich wieder Single. Mit mir hält es kein Mann aus. Aber das weißt du ja am besten."

Karsten stutzte. "Wie kommst du darauf? Wir waren acht Jahren zusammen. Und dann hast du mich verlassen."

"Du hast Karriere gemacht, und irgendwann hast du mich nicht mehr zu den Einladungen deiner Bosse mitgenommen. Du begannst dich für mich zu schämen. Ich war nicht mehr standesgemäß. In Wahrheit hattest du mich verlassen."

"Das habe ich nicht gefühlt. All die Jahre hatte ich mich gefragt: Warum? Was du sagst, habe ich damals nicht gewusst. Warum hast du nichts gesagt?"

Evelyn zeigte eine nachsichtige Miene. "Natürlich hast du nichts davon bemerkt. Du warst mit dir beschäftigt. Ich hatte eine Menge gesagt, aber du hast mir nicht zugehört. Und wenn doch, hast mich für überspannt erklärt, für jemanden, der Probleme herbeischafft, dir wir deiner Meinung nach nicht hatten. Obwohl wir schon knietief in ihnen steckten. Du merktest nicht, wie du dich von mir und deine Kindern entferntest. Wir waren für dich nur noch als Posten da, an denen du spätabends einen Haken machtest."

"Das tut mir leid."

"Mir auch."

Vorsicht!, ging es Evelyn durch den Kopf, dieses Gespräch nimmt eine unheilvolle Wendung. Bist du gerade dabei, dich wieder in den Mann zu verlieben, von dem du glaubtest, er sei für dich gestorben? Den du nach fünfzehn Jahren wieder getroffen hast und der jetzt die gleichen Gefühle in dir weckt wie damals, als du ihn zum ersten Mal sahst und dir sicher zu glauben schienst: Das ist der Mann, mit dem du durch den Rest deines Lebens gehen willst …?

Er war sichtbar älter geworden, machte aber immer noch etwas her. Sein Haar, das er länger trug als früher, war noch voll und zeigte keine Spuren von Grau, außer an den Schläfen, was ihn attraktiv machte. Er schien auf seine Figur zu achten und Sorgfalt auf seine Kleidung zu legen, die zwar leger, aber geschmackvoll war, ohne Schnickschnack und Herstellersymbolen. Evelyn musste sich eingestehen, dass Karsten immer noch umwerfend gut aussah.

Lieber Gott, dachte sie, obwohl sie keinen Funken religiös war, wirf mich nicht zurück in die Vergangenheit, die ich so schmerzvoll hinter mir gelassen habe!

Doch auf einer ihrer Schultern muss der Teufel gesessen haben, denn als Karsten sie fragte: "Wollen wir mal zusammen essen gehen? Es würde mich freuen, mit dir zu plaudern", da nickte sie und gab ihm ihre Telefonnummer.

Sie bereute es noch in derselben Nacht, in der sie sich schlaflos von einer Seite auf die andere warf. Hundertmal versuchte sie sich zu beruhigen, indem sie sich einredete, standhaft genug zu sein, um Karsten, sollte er wirklich anrufen, einen Korb zu geben. Doch in ihrem Herzen wusste sie, dass sie seiner Einladung folgen würde.

Sie sehnte sich nach den Gefühlen von damals, nach der Frische der ersten Liebe, als sie sich in das Abenteuer fallen lassen konnte, in Karstens Landkarte einzutauchen und mit ihm gemeinsam die Inseln aufzusuchen, auf denen sie zusammen der nüchternen Welt entkommen und unbekümmert ihre Körper erforschen konnten. Eine schöne Zeit, wie man sie nur einmal erlebt.

Inzwischen war sie zu erwachsen und zu erfahren geworden, um den Illusionen der Vergangenheit anzuhängen. Sie hatten längst den Illusionen der Gegenwart weichen müssen, die sich nicht mehr so glücklich anfühlten, aber noch lebendig und nah genug waren, um aus ihnen Kraft für den Alltag zu schöpfen.

Aufgewühlt schlief Evelyn erst in den frühen Morgenstunden ein und verfluchte den Radiowecker, der sie Punkt sieben mit Grönemeyers "sie hört Musik nur, wenn sie laut ist" aus dem Schlaf riss. Am Abend, kaum dass sie vom Büro Hause gekommen war, rief Karsten an. "Bei Leonardo? Ich habe für acht Uhr reserviert."

Evelyn sagte zu. Sie war noch nie bei Leonardo gewesen, denn dieses piekfeine Restaurant war für ihre Verhältnisse zu teuer. An Bescheidenheit gewöhnt, bestellte sie ein schlichtes Gericht: Lachs in Dillsauce mit Folienkartoffel, dazu einen gemischten Salat und ein Glas trockenen Weißweins. Keine Vorspeise, kein Nachtisch. Karsten langte hingegen mächtig zu, nahm als Vorspeise Hummer, dann ein sündhaft schweres Filetsteak mit reichlich Gemüse und dazu eine Extra-Pfanne Champignons in Sahnesauce. Auch mit Wein geizte er nicht: Rosé zum Hummer, Roten zum Steak. Evelyn fiel auf, dass er die Speisen hastig in sich hineinstopfte und den Wein wie Wasser in sich hineinkippte, ohne dabei Genuss zu empfinden. Er sprach mit vollem Mund, was sie verabscheute.

Auf Nachtisch befragt, nahm Karten ein Tiramisu, von dem Evelyn ihm zwei kleine Löffel voll abnahm. Wo packt er das hin, fragte sie sich, so rank und schlank wie er ist? Sie sollte es erfahren. Doch zunächst fragte sie: "Was ist zwischen Christine und dir passiert?"

Karsten hob die Schultern. "Keine Ahnung. Es hat sich so entwickelt. Sie war sehr schön und …"

"Weiß ich", warf Evelyn ein. "Deshalb ging es mit uns auseinander."

"… und sie hatte Erwartungen. Ich musste ihr etwas bieten."

Evelyn grinste. "Darauf wäre ich nicht gekommen."

Karsten ignorierte ihren Sarkasmus. Er war bedürftig, sich sein Leid von der Seele zu reden. Evelyn bemerkte ein nervöses Zucken seiner Augenlider. "Und dann?"

"Sie lernte einen Kerl kennen, der ihr mehr bieten konnte als ich. Von mir hatte sie den Lederrock, den Schmuck, das Pferd. Aber das war ihr nicht genug. Ich dachte, da sei auch Liebe dabei. Aber dann ist sie diesem Fettwanst hinterhergelaufen. Das ganz große Geld wiegt halt mehr als der Wohlstand eines Mannes, der auf sich achtet und seine Frau auf Händen trägt. Ich habe Sport getrieben, jeden Morgen. Gewichte gestemmt, an den Wochenenden Tennis gespielt, und auch sonst … . Tagsüber habe ich geschuftet wie ein Tier, und die halbe Nacht bin ich mit ihr durch die Bars getingelt und habe zugesehen, wie sie mit jedem dahergelaufenen Gockel geflirtet hat. Ich habe so getan, als sei es mir egal, aber …"

Evelyn ließ ihn reden, genoss ihren Lachs und nippte an ihrem Wein.

"Die Scheidung hat mich ein Vermögen gekostet. Aber ich komme da wieder raus. Weil ich in meinem Job gut bin. Ich kriege das hin. In zwei Jahren habe ich den Verlust wett gemacht, und dann …"

Evelyn hielt inne. "Den Verlust?"

Karsten war irritiert. "Ich verstehe deine Frage nicht."

"Du hattest Christine als eine Investition angesehen? Du hast sie mit Reichtum überhäuft, mit einem Bankkonto, mit Schmuck und was sonst, obwohl völlig klar ist, dass selbst die schönste Frau der Welt irgendwann zu einem Abschreibungsfaktor wird? Sie wird alt und muss sich rechtzeitig nach jemandem umsehen, der weniger Abschreibungsmöglichkeiten hat. So einfach funktioniert das. Wenn ein Mann richtig reich ist, hängt man ihm drei Kinder an, damit er aus der Sache nicht mehr billig raus kommt. Das hast du verpasst."

"Du kannst einem die Wahrheiten unverblümt um die Ohren hauen", konstatierte Karsten und stopfte weiter sein Essen in sich rein. Evelyn sah mit Abscheu, wie er das Fleisch verschlang, ohne genügend gekaut zu haben. Wenn er sprach, flogen ihm Speisefetzen aus dem Mund.

Ein Nervenbündel, dachte Evelyn, und wusste hernach nicht, wie sie diesen Abend überstanden hatte. Als Karsten sie in seiner Wuchtbrumme von Mercedes nach Hause gefahren hatte und vor ihrem Ausstieg fragte: "Darf ich noch auf einen Drink raufkommen? Ich glaube, ich habe mich neu in dich verliebt." Da antworte sie: "Definitiv nicht." Und weil sie sicher war, stieg sie aus und schaute nicht mehr zurück.
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.10.2022, 15:25   #2
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
ich finde das spannend und wage einen Blick in eine weibliche Seele. Und dann keimt in mir der Wunsch, eine ähnliche Story aus der Perspektive eines Mannes zu schreiben. Angesetzt hatte ich schon mal und ich staune über eine doch sehr unterschiedliche Erinnerungskultur bei mir. Eine verflossene aber sehr heftige Liebesbeziehung weckt in mir den Wunsch, doch noch einmal den Kontakt zu "ihr" herzustellen, ihr zu sagen, dass wir in unseren jüngeren Jahren so vieles versäumt und falsch gemacht haben, sie zu bitten, dies alles nachzuholen.
Dann schau ich auf meinen Terminkalender und schrecke zurück, weil ich meinen nächsten Geburtstag notiert habe und mir eingestehen muss: Schäume sind es, nicht erfüllbare Träume.
Der Traum der letzten Nacht hatte damit zu tun. Ich griff nach meinem Handy,
wählte die Notrufnummer, weil die ehemals Angebetete zurück gekommen ist und aus welchem Grund auch immer in meiner Mikrowelle ein Schläfchen zu machen. Ich riss die Tür der MW auf, sah, wie sie da schon leicht angebrutzelt war, brüllte meinen Freund an, er möge den Rettungsdienst anrufen. Sein Handy funktionierte nicht, also rief ich selber an. Was glaubst du, wieviel Überredungskunst es kostete, den ersten Alarmanruf zu widerrufen und klar zu machen, dass ich den ganzen Mist nur geträumt hatte.
Ich wünsche dir ein sonniges Wochenende, so eines, wie es sich mir hier in MeckPomm ankündigt. (Ich habe übrigens seit drei Jahren keine Mikrowelle).
Heinz
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Alt 20.10.2022, 15:39   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Liebe Ilka-Maria,
ich finde das spannend und wage einen Blick in eine weibliche Seele. Und dann keimt in mir der Wunsch, eine ähnliche Story aus der Perspektive eines Mannes zu schreiben.
Dann mach das mal. Vielleicht schreibe ich auch die Gegenstory, nämlich die Begegnung aus Karstens Sicht.

Mal gucken, wer von uns beiden schneller ist.
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