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Alt 11.10.2022, 18:19   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Frederik

Cleo fühlte sich beobachtet. Obwohl sie in ihre Tageszeitung vertieft war und nur ab und zu aufschaute, um die Tasse zu heben und einen Schluck Kaffee daraus zu trinken, meldete ihr Instinkt, dass an der Atmosphäre etwas nicht stimmte.

Sie faltete die Zeitung zusammen und stopfte sie in ihren Einkaufsbeutel, der an der Rückenlehne ihres Stuhls hing. Dann schaute sie sich um. Der Gehweg zwischen dem Café und der Straße war breit genug, um dem Betreiber zu erlauben, zehn Tische mit jeweils drei Stühlen aufzustellen, ohne die Fußgänger zu behindern. Die Plätze waren fast alle von Paaren, Freunden und Freundinnen oder von Müttern mit Kindern belegt, die in der City einkaufen waren und eine Pause einlegten, um sich bei Kaffee und Schokolade, Kuchen oder Eis zu entspannen und ein wenig miteinander zu plaudern.

Bis auf einen Tisch, an dem ein Mann alleine saß.

Cleo erkannte sofort die Quelle ihres Unbehagens. Dieser Mann hatte sie im Visier, und sie fragte sich, wie lange schon. Und weshalb.

Als sich ihre Blicke trafen, schaute er weg. Nicht zufällig, auch nicht aus Höflichkeit, Cleo nicht zu nahe treten zu wollen. Sondern schnell und verlegen wie ein ertappter Dieb, der seinem Zugriff entkommen will. Cleo schenkte ihm keine weitere Beachtung. Sie goss sich den Rest Kaffee aus ihrem Kännchen ein und winkte der Bedienung, dass sie zahlen wolle. Doch als sie aus der Tasse trank, sah sie über deren Rand hinweg, dass die Augen des Mannes wieder an sie geheftet waren.

Sie zahlte, nahm ihre Handtasche und ihren Einkaufsbeutel, aber statt die Straßenterrasse zu verlassen, steuerte sie schnurstracks auf den Mann zu. "Darf ich wissen, weshalb sie mich die ganze Zeit angestarrt haben?"

Der Mann wurde bleich. Hilflos schaute er sich um, als suche er einen Weg, dieser Situation zu entkommen.

"Sie sind hoffentlich nicht stumm", fuhr ihn Cleo an. "Oder gar taubstumm." Sie hob ihre Stimme, so dass alle Gäste des Cafés ihre Worte mitbekamen. "Weshalb haben sie mich die ganze Zeit derart penetrant angestarrt, als seien Sie ein hungriger Tiger und ich seine Beute?"

Der Mann fuhr in die Höhe und hob abwehrend die Hände. "Um Gottes willen!" Er stolperte fast über ein Stuhlbein, als er sich aus seiner Ecke befreite und wie in Panik davonstürzte.

Die Bedienung rief ihm hinterher. "Kommen Sie zurück. Sie haben noch nicht bezahlt!"

"Was hatte er?", fragte Cleo. "Keine Ahnung. Völliger Blackout." Cloe musste lachen. "Das meine ich nicht. Was hatte er bestellt?" Jetzt ging ein Lächeln über das Gesicht der Bedienung. "Ach so. Einen Kaffee und ein gemischtes Eis. Ein kleines." Cleo zog einen Zehn-Euro-Schein aus ihrem Portemonnaie. "Reicht das?" Die Bedienung nickte.

Einen Tag später hatte Cleo den Zwischenfall aus dem Kopf. Die Arbeit nahm sie in Anspruch, und als Werbetexterin hatte sie genug zu tun, ihre Gedanken beisammen zu halten und sich auf die Forderungen an kreativen Ideen zu konzentrieren, die ihr abverlangt wurden. Als sie aber eines Abends kurz vor Ladenschluss noch einen Noteinkauf zustande brachte – einen Endivien, eine Gurke, einen Viererpack Joghurt und ein eingeschweißtes 250-Gramm-Stück Filet-Steak – und sich an der Kasse einreihte, erkannte sie vor ihr den Mann vom Straßencafé.

Sie tippte ihm auf die Schulter, und als er sich nach ihr umdrehte, sagte sie: "Sie schulden mir zehn Euro für den Kaffee und das Eis, für das ich bei Salvatore eingesprungen bin, nachdem Sie getürmt sind."

Amüsiert sah sie die Irritation in seinen Augen. "Wollen Sie das Schauspiel hier wiederholen? Nachdem Sie ihren Einkauf auf das Laufband gelegt haben? Ich glaube, das käme nicht gut an. Und dieses Mal würde ich dafür nicht aufkommen."

Mehr konnte Cleo nicht sagen, denn der Mann war an der Reihe. Nachdem er seinen Einkauf in seinen Beuteln verstaut hatte, wartete er, bis Cleo durch war. "Wir müssen reden." Cleo nickte. "Das glaube ich auch."

In der Nähe des Supermarkts war ein Bistro, in dem sie sich niederließen. "Also?" Der Mann zuckte die Schultern. "Sagen Sie mir zuerst, wie Sie heißen." "Cleo. Und Sie?" "Frederik."

Er sieht gut aus, dachte Cleo. Groß, schlank, markantes Gesicht. Wieso ist so ein Mann allein? Aber ist er wirklich allein? Es war nur eine Mutmaßung. "Also, Frederik, wieso sind wir hier?"

Frederik begann zu drucksen. Er hob einige Male zu reden an, aber dann versagte ihm die Stimme.

"Geheimnisvoller Frederik", frotzelte Cleo. "Nun gut. Jetzt, wo wir uns kennengelernt haben, können wir uns ja wiedertreffen. Beim nächsten Mal bringe ich eine Kanne Motoröl mit."

Er verstand die Anspielung und lachte. "Vielleicht hilft's." Und dann tauschten sie ihre Telefonnummern aus.

Sie trafen sich eine Woche später im Lukullus und bestellten eine Platte für zwei Personen mit den Spezialitäten des Balkans. Nach ein paar lockeren Gesprächsfetzen stellte Cloe wieder ihre Frage: "Also?"

Und dieses Mal gab sich Frederik einen Ruck. "Als ich dich sah, damals bei Salvatore, dachte ich, die Vergangenheit holt mich ein. Es war wie …". Er hielt kurz inne. "Ich mag es nicht aussprechen, denn das glaubt mir kein Mensch."

"Versuchen Sie es. Brauchen Sie vielleicht einen Cognac?"

Frederik nickte, und nachdem er den Cognac hinuntergestürzt hatte, versuchte er, zu erzählen. "Also …". Doch er stockte wieder.

"Also?"

"Also, das war so. Margitta. Sie war wunderschön und lebensfroh. So leicht und immer gut gelaunt. Nicht schwer wie ich, der immer im Clinch mit der Welt war. Sie heiterte mich auf, foppte mich und hatte Überraschungen für mich parat. Einmal brachte sie mir einen Igel und meinte, jetzt könne ich mich mit ihm um die Wette einrollen. Dieses Kerlchen stank zum Himmel. Aber lustig war es schon. Wir brachten ihn später in einer Igelstation unter."

"Und dann?"

"Wir verliebten uns, Margitta und ich. Probierten das Küssen aus und noch ein bisschen mehr, soweit man halt damals gehen durfte, ohne in die Bredouille zu kommen. Und dann schworen wir uns ewige Liebe und Treue. Wir machten Pläne, wie unser künftiges Leben aussehen sollte."

"Es schien Ihnen ernst gewesen zu sein."

"Mir schon. Aber nicht Margitta. Ich erfuhr hintenrum, dass sie auch anderen Jungs schöne Augen machte, und sogar noch mehr. Dass sie es mit ihnen weiter trieb als mit mir. Ich war ein dummes Schaf." Er machte eine Pause., um sich zu sammeln. "Eines Tages eröffnete sie mir, dass sie schwanger sei und ich mich meiner Verantwortung zu stellen habe. Ich war wie vom Donner gerührt. Mehr als Gefummel war zwischen uns nicht gewesen, also wie konnte sie die Unverschämtheit an den Tag legen, mich für ihre Schwangerschaft verantwortlich zu machen?"

Frederiks Augen wurden feucht. "Ich schwöre, dass ich Margitta geliebt habe. Ich hätte ihr alles verziehen, und ich hätte auch ihr Kind aufgezogen, egal, von welchem Mann es gestammt hätte. Wenn sie mir nur auch ein bisschen Liebe hätte entgegenbringen können. Stattdessen gab ich ihr einen Tritt. Sie war so außer sich, dass sie davonrannte, von einem Bus erfasste wurde und schwerverletzt in die Klinik eingeliefert wurde. Sie starb noch in der gleichen Nacht."

Cloe griff nach seiner Hand. "Du fühlst dich schuldig an ihrem Tod?" Unbewusst war sie vom "Sie" zum "Du" übergegangen. Frederik nickte, fasste sich aber im nächsten Moment. "Jetzt kennen Sie meine Geschichte. Und fragen sich, was sie mit Ihnen zu tun hat."

Cloe nickte. "Richtig. Was?"

"Sie sehen aus wie Margitta. Sie gleichen ihr bis aufs Haar. Als Sie mich am Tisch in dem Café zusammenstauchten und ich ihre Stimme hörte, da hörte ich Margittas Stimme. Sogar der Leberfleck vor dem linken Ohr sitzt exakt an der gleichen Stelle. Das alles kam mir überirdisch vor, oder unterweltlich, je nach Perspektive. Einfach unheimlich."

Cloe war irritiert. "Ich bin doch kein Wiedergänger!" Frederik lächelte. "Gewiss nicht. Aber ich frage mich, ob unsere Begegnung Zufall oder Schicksal war." "Vorbestimmt?" Er zuckte die Schultern. "Vielleicht." Er strich ihr über das Haar. "Sie sehen Margitta so ähnlich, als seien sie ihr Abziehbild. Und als gäbe mir der Himmel eine zweite Chance."

Nachdem sich Frederik geöffnet hatte, strömte er eine Wärme aus, die Cloe in einen Zustand der wohligen Geborgenheit versetzte. Sie verliebte sich in ihn, und seit ihrer Aussprache trafen sie sich regelmäßig. Cloe fühlte sich nirgendwo sicherer als in Frederiks Armen.

"Unheimlich?" Corinna, ihre beste Freundin, fasste Cloe an den Haaren und zog an ihnen, dass es schmerzte. "Komm zu dir, Cloe! Der Typ macht dir etwas vor. Erzählt dir eine irre Geschichte, um dich einzulullen. Lass dich bloß nicht darauf ein!"

"Aber wenn …", versuchte Cleo vorzubringen, wurde aber sofort abgewürgt. "Aber, aber, aber … - genau darauf fahren solche Typen ab. Auf all die Wenn und Aber." Corinna holte Luft. "Der hat dich ausgeguckt, ganz gezielt. Und ich verwette meine beiden Großmütter, dass es nie eine Margitta gab."

"Aber warum?"

"Warte ab. Der kommt schon noch mit etwas."

"Wieso denkst du immer nur das Schlechteste von den Männern?"

"Ich habe meine Erfahrungen." Corinna setzte eine überlegene Miene auf. "Aber mach, was du willst. Du wirst schon selber sehen."

Zwei Tage später trafen sich Cloe und Frederik bei Paulaner und genossen einen vergnüglichen Abend bei Bier, Bretzeln und Weißwurst. Als Frederik bezahlen wollte, fingerte er vergeblich nach seiner Brieftasche. "Ich muss sie verloren haben." Er versuchte sich zu erinnern. Der Abend war mild, und auf dem Weg zur Kneipe hatte er sein Jackett ausgezogen und über dem Arm getragen. "Sie muss mir aus der Innentasche gerutscht sein. Wie blöd!"

Cloe bezahlte die Zeche und verbrachte den weiteren Abend mit Frederik im Bett, behielt aber einen faden Geschmack zurück. Ihr Misstrauen wuchs, als er sie beim nächsten Treffen um zweihundert Euro bat. "Ich habe Geld abgehoben, aber nur hundertfünfzig statt fünfhundert Euro bekommen, weil der Automat leer war."

Unter einem Vorwand, weshalb sie nicht mehr Geld vorrätig habe, gab ihm Cloe zwei Fünfzig-Euro-Scheine. Ihr Misstrauen, von Corinna als Keimling gepflanzt, begann zu wachsen. "Ich hab's dir doch gesagt!", triumphierte Corinna. Er zapft dich an. Und pass auf, bald braucht er mehr."

Dann sah Cloe ihn auf der Straßenterrasse des Cafés, in dem sie sich kennengelernt hatten. Rein zufällig, weil sie gerade vom Kaufhaus kam, wo sie eine neue Handtasche gekauft hatte. Frederik war in Begleitung einer bildschönen Frau, der er Küsse auf die Stirn und die Wangen drückte und den Stuhl zurechtrückte, damit sie sich bequem setzen konnte.

Cloe konnte nicht an sich halten. Sie steuerte auf Frederik zu, der bei ihrem Anblick erfreut zu sein schien, aber dafür hatte sie keinen Blick. "So einer bist du also, du Scheißkerl!" Dann drehte sie sich um und lief davon. "Bleib stehen!", hörte sie ihn rufen, aber sie lief, die Augen verhangen von Tränen, drauflos. Wohin auch immer. Nur weg.

Das letzte, was sie wahrnahm, was das Kreischen einer Bremse. Und die Illusion eines fülligen Federbetts, mit dem sie zugedeckt wurde, wie damals, als sie Kind war. Aus der Ferne schien ein Wiegenlied an ihr Ohr zu dringen, doch die Worte waren verzerrt, und die Musik erstarb.

Als sie erwachte, fand sie sich an einem Ufer, an das ein Fährmann seinen Nachen gebunden hatte. Kein Wind regte sich, die Wasseroberfläche blieb glatt, und kein Vogel sang. "Ist es hier immer so still?", fragte Cloe den Fährmann. Er nickte und griff nach ihrer Hand. "Du Närrin! Sie ist seine Schwester. Und jede Schuld hätte er dir mit Zinsen vergoldet."

Sie erschrak und versuchte, ihm ihre Hand zu entreißen. "Kann ich zurück?"

Doch der Fährmann hielt sie eisern fest und schüttelte den Kopf. "Du hast dich entschieden, als er dir hinterherrief, du aber weiterliefst." Er stützte ihren Arm, um ihr den Einstieg bequem zu machen. Dann legte er ab.

11.10.2022
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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