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Alt 17.11.2022, 13:57   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die Zeit steht still

Georg schlenderte durch die Taunusstraße. Alle paar Schritte blieb er stehen, um die Fassaden der Häuser mit den hohen Fenstern und die Eingangstüren zu den Höfen und Treppenhäusern zu betrachten. Die meisten Gebäude stammten aus der Gründerzeit, hier und da unterbrochen von moderneren Häusern, die nach dem Krieg eilends hochgezogen worden waren.

In dieser Straße war Georg aufgewachsen, hatte die Verfehlungen seiner Jugend erlebt und war im Torbogen der Nummer achtundzwanzig, die zwischen der Bäckerei Hefner und der Metzgerei Hock eingeklemmt war, erstmals geküsst worden. Von Sieglinde, Hefners Tochter, die zwei Jahre älter war als er, tief ausgeschnittene Pullover über ihren vollentwickelten Brüsten trug und ihre Hirschkuhaugen mit Lidschatten und Wimperntusche schminkte. "Gefällt es dir?", fragte sie mit verführerisch rauer Stimme und schob ihm ihre Zunge in den Mund. Ihre Küsse hatten seine Kindheit besiegelt: Noch vor Ende der Woche hatte er seine Ritterburg samt Vasallen-, Burgfräulein- und Pagenfiguren in eine Kiste gepackt und an den kleinen Krischan verschenkt, der an der Ecke Odenwaldstraße wohnte und nur wenig Spielzeug besaß, weil seine Eltern zu arm waren, ihm welches zu kaufen. "Du bist mein bester Freund", sagte der Junge mit glänzenden Augen, und Georg fühlte sich wie ein Held.

Sieglinde küsste ihn noch ein paarmal, erlaubte ihm sogar, seine Hände unter ihren Pullover und Büstenhalter zu schieben, was sie ihm mit einer sanften Massage dessen, was hinter seinem Hosenlatz augenblicklich den Aufstand probte, zurückgab. Aber danach war diese Affäre vorbei, weil sie an ihm das Interesse verloren hatte.

Georg hatte lange überlegt, ob er in seine alte Straße zurückkehren solle und was es ihm bringen werde, Erinnerungen an die Kindheit und Jugend aufzuwärmen. Aber er wusste nicht, ob er nochmal die Gelegenheit bekäme, in die Stadt zu kommen. Alles sprach eher dafür, dass er nur diese eine Chance hatte.

Jetzt stand er vor der Nummer fünfunddreißig, und seine Brust durchfuhr ein Stich. Wie konnte er vergessen haben, was sich hier ereignet hatte? Plötzlich stand die Szenerie wieder vor seinen Augen, wie in Zeitlupe und bis ins Detail. Jetzt erinnerte er sich wieder, dass er damals von einem Ermittler befragt worden war, behutsam und im Beisein einer Betreuerin, denn er stand unter Schock und konnte nur Bruchstücke über das Erlebte stammeln, noch das Bild eines kleinen Jungen im Kopf, den er in den Arm genommen und ihm ein bisschen Geborgenheit gegeben hatte, ehe ihn die Mitarbeiter des Jugendamtes mitnahmen.

Georg war gerade von der Schule nach Hause gekommen, als ihm Florian schreiend entgegengelaufen kam, das Gesicht von Tränen überströmt, die Kleidung voller Blut. "Mama! Meine Mama!" Georg wollte ins Haus, um nach der Ursache von Florians Verzweiflung zu forschen, doch der Kleine hielt ihn zurück. "Papa hat Mama totgemacht. Mit einem Messer." Georg ging dennoch in die Wohnung. Dort lagen Florians Eltern, beide tot. Sein Vater hatte sich die Klinge selbst ins Herz gestoßen. Georg klingelte bei einem Mitbewohner, und der rief die Polizei.

Nummer vierundfünfzig. Britta. Georgs erste große Liebe. Sie wohnte im zweiten Stock, streng behütet von ihren Eltern. Von ihrem Fenster aus warf sie Georg Liebesbriefe nach unten, mit ein paar Münzen beschwert, damit sie genauer fielen. Von den Münzen kaufte er beim Italiener ein Eis in der Waffel, leckte es auf und phantasierte, es seien Brittas Nippel und ihre Muschi.

Sie schafften es, ein einsames Plätzchen zu finden, wo sie sich einander hingeben konnten. Es war für beide das erste Mal, das ohne Folgen blieb. Aber Brittas Eltern hatten große Pläne für ihre Tochter und schickten sie nach Brighton in England, um sie für eine Karriere ausbilden zu lassen. Ihre Liebe zu Georg war nicht stark genug gewesen, sich zu widersetzen.

Nummer achtundsechzig. Hier wuchs Ingo auf, Georgs Klassenkamerad und der Primus im Englischunterricht, für den immer feststand, dass er Pilot werden wollte. Tatsächlich sah Georg ihn auf einem Flug in die U.S.A. wieder, als Ingo, nachdem das Flugzeug auf Höhe und die Automatik eingeschaltet war, durch die Reihen ging, um die Fluggäste zu begrüßen. Das war ein fröhliches Hallo! Ingo nahm Georg mit ins Cockpit, wo er ihm die Technik erklärte. Danach hatte Georg keine Angst mehr vor dem Besteigen eines Flugzeuges.

Das Eckhaus. Unten eine Kneipe mit Kegelbahn und einem Einarmigen Banditen. Eine Bumskneipe, in der man Sauerkraut mit Würstchen und ein Bier bestellte. Georg erinnerte sich an eine Schlägerei zwischen Besoffenen, die aus der Kneipe auf die Straße torkelten, keiner mehr imstande, seinem Widersacher einen Kinnhaken zu verpassen. Einen der Berauschten schlug es der Länge nach hin. Neben Georg standen noch andere Kinder, die das Schauspiel mit offenen Mündern verfolgten. Was wussten sie schon über die Wirkung von Alkohol?

Georg war am Ende der Straße angekommen. Manches hatte sich verändert, aber nicht viel. Hier und da war der Eingang erneuert worden, manches Haus hatte einen neuen Farbanstrich bekommen. Man bildet sich ein, die Zeit verginge schnell. Doch in Wahrheit steht sie still, weil man sie in sich trägt. Man wird alt und bleibt ein Kind.

Es war kein Fehler, zurückzukehren, dachte Georg. Aber ich werde ihn nicht nochmal begehen. Er lächelte, weil er sich des Widerspruchs in seinem Gedanken bewusst war. Strammen Schrittes schlug er den Weg zum Bahnhof ein, um seinen Anschlusszug nicht zu verpassen.

18.11.2022
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Alt 17.11.2022, 19:44   #2
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Standard Sehr cool...

Aus dem prallen, wahren Leben... Schöne Idee, gut umgesetzt. Hätte mir fast eine längere Strasse gewünscht, mit noch mehr Geheimnissen, aber der Versuchung wurde widerstanden,... auch die Länge ist imho richtig bemessen. Zumal die letzte Passage ein feines Ende setzt. Gern gelesen, sehr gern... Und mit dem seltenen Gefühl, ich hätte hier etwas verpassen können. Merci, MT
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Alt 17.11.2022, 22:08   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von MoonTalker Beitrag anzeigen
Schöne Idee, gut umgesetzt. Hätte mir fast eine längere Strasse gewünscht, ...
Ein tolles Kompliment, vielen Dank.
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Alt 18.11.2022, 01:00   #4
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.879


Liebe Ilka-Maria,
mit deiner Geschichte bist du bei mir tief in Gefühlsbereiche vorgedrungen, die meist im Verborgenen schlummern und nun zu implodieren drohen. Mag sein, dass Implosion nicht der passende Ausdruck ist und hört sich recht physikalisch an, aber vielleicht erspürst du meine Reaktion, wenn ich deine Geschichte mit einer Kurzfassung meiner aufgeweckten Gedanken ergänze. Auch ich ging - nicht nur eine Straße, sondern deren zwei - weit zurück liegenden Erinnerungen
folgend entlang, begleitet von meiner Tochter, um ihr die Stätten meiner Kindheit zu zeigen. Als erstes sollte sie das Haus kennen lernen, in dem ich geboren wurde - ein vierstöckiges Mietshaus in der Gustav-Fischer-Straße Nr. 3 in Jena, als zweites meine "Herzensheimat", die Waldgaststätte "Einhügelquelle", die in fünf Kilometer Luftentfernung mitten im Wald von meiner Tante bewirtschaftet wurde und mit der mich meine allerersten Kindheitserinnerungen (ich hatte meinen dritten Geburtstag und meine Mutter war mit mir bei Tante Berta und erlebte den Einmarsch der Amerikaner, die tags zuvor Buchenwald befreit hatten) verband. Meiner Tochter wollte ich u.a. zeigen, wo sie in hoffentlich vielen Jahren meine Urne verstecken soll.
Die Gustav-Fischer-Straße Nr. 3 gab es nicht mehr. Heraus geschnitten aus der Häuserzeile klaffte eine Lücke und wir erfuhren, dass dieses Haus wegen eines unterirdischen Wasserlaufs abgerissen werden musste. Die Einhügelquelle existierte nicht mehr - auch sie war dem Erdboden gleichgemacht, weil sie seit mehreren Jahrzehnten leer stand und baufällig geworden war. Die Quelle selbst gibt es natürlich noch und meine Tochter kennt den Platz, wo in der Nähe bronzezeitliche Funde gemacht wurden, an dem meine Asche zu deponieren ist (wie gesagt - hoffentlich erst in mindestens 25 Jahren). Die vorgesehene Stelle werde ich bei meinem nächsten Besuch fotografieren und bin wohl der einzige lebende Mensch, der seine letzte Ruhestätte selbst fotografiert.
Mit deiner Geschichte hast du ganz schön was in mir angerichtet. Dass die beiden Stätten meiner Kindheit nicht mehr existieren, macht mich mindestens nachdenklich und ich bin davon überzeugt, dass ich heute nacht davon träume.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 18.11.2022, 06:36   #5
weiblich Ilka-Maria
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Tut mir leid, Heinz, dass von den Stätten deiner Kindertage nichts mehr geblieben ist. Mir geht es aber nicht anders. Meine ersten dreizehn Jahre wohnte ich mit meinem Eltern in einem zurückgebauten alten Wohnhaus in der Offenbacher Goethestraße. Vom Vorderhaus existierte nur noch das Kellergewölbe, was darüber war, ging 1944 bei zwei Luftangriffen drauf. In den 70er Jahren wurden die alten Häuser in diesem Teil der Straße abgerissen, und es entstand ein moderner Wohnblock.

In der Innenstadt, wo meine Großmutter in der Frankfurter Straße wohnte, verschwand in der Herrnstraße ein ganzer Straßenzug mit Gaststätte, zwei Kinos und Kolonialwarenladen. Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, nochmal in den Hof in der Frankfurter Straße zu gehen, und ich staunte nicht schlecht, wie klein er war. Ich hatte ihn größer in Erinnerung.

Seit Jahren gibt es auch die Tram nicht mehr in der Innenstadt, sie musste der S-Bahn weichen. Mit ihr fuhren Großmutter und ich in der Adventszeit immer nach Frankfurt, um Weihnachtseinkäufe zu machen, sprich: Kleidung für mich. Dazu gehörte traditionell ein Besuch im Café Wipra, das mich faszinierte, weil ihm lebende Papageien einen exotischen Touch gaben. Es existierte nur noch kurze Zeit, denn auch der Wohnbereich darüber war weggebombt gewesen.

Genau genommen war ich ein Trümmerkind. Der Schutt war zwar weggeräumt, aber die Ruinen, die der Krieg hinterlassen hatte, waren noch überall zu sehen. Das war mir damals nicht bewusst, genauso wenig, wie unser Stadttheater in der Goethestraße einst die Synagoge der Offenbacher Judengemeinde war. Darüber sprach niemand. Heute ist es ein Musical Theater, in dem sogar Kevin Costner schon zweimal mit seiner Country Band aufgetreten war.

Aber diese Erinnerungen ergäben eine andere, eine wahre Geschichte.
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Alt 18.11.2022, 21:43   #6
männlich Eziotar
 
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Standard Hallo

Die Geschichte hat mich voll mitgerissen und liest sich hervorragend! Großes Kompliment

Gruß
Eziotar
Eziotar ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.11.2022, 21:57   #7
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Danke, Eziotar. Freut mich.
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