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Alt 11.11.2022, 22:37   #1
männlich Eziotar
 
Dabei seit: 11/2022
Beiträge: 36


Standard Der freie Wille

Georg hatte das Büro heute zwei Stunden früher als üblich verlassen. Er hatte gleich gewusst, dass er sich für den heutigen Tag hätte krankschreiben lassen sollen. Nach dem Mittagessen war ihm übel geworden. Er hatte sich auf der Toilette übergeben und dann beschlossen, sich beim Chef abzumelden.

Auf dem Nachhauseweg dachte er über Maria nach. Sie hatte heute ihren freien Tag und er freute sich richtig darauf, den Nachmittag mit ihr gemeinsam verbringen zu können. Sie waren seit vier Jahren zusammen aber Georg war immer noch so stürmisch in sie verliebt wie ganz zu Beginn ihrer Beziehung.


Schon als er die Haustür aufschloss, merkte er, dass heute etwas nicht stimmte. Aus dem oberen Stockwerk hörte er eine fremde Männerstimme, die hektisch etwas Unverständliches flüsterte.
Georg hastete die Treppe hinauf und riss die Schlafzimmertür seiner Frau auf. Dort sah er einen fremden Mann, der hektisch versuchte, sich seine Hose anzuziehen. Seine Frau lag unter einem Bettlaken. Schock und Scham waren ihr ins Gesicht geschrieben.
Georg brachte nichts weiter zu Stande als ein ungläubiges und verzweifeltes Stöhnen.


"Soll ich euch etwas vom Bäcker mitbringen?", rief Georg, der schon mit den Schuhen im Flur stand, bereit loszugehen.
"Nein danke!", rief seine Mutter zurück.
Seit er sich vor zwei Wochen von Maria getrennt hatte, war er wieder bei seinen Eltern eingezogen. Oft hatte er davon geträumt, wieder in seinem früheren Kinderzimmer zu sitzen und die alten Harry-Potter-Bücher auszugraben. Nochmal das Kind seiner Eltern zu sein.
Trotzdem war er noch nie in seinem Leben derart verzweifelt gewesen. Das Leben ohne Maria schien leer und farblos. Vier Jahre lang war sie der Grund gewesen, warum er sich morgens überhaupt aus dem Bett aufraffen konnte. Schon oft hatte er sich fest vorgenommen, ihr einfach zu verzeihen, die Sache als einen einmaligen Ausrutscher anzusehen und wieder zu ihr zurückzukehren. Doch er schaffte es nicht. Er konnte nicht verstehen, wie Maria ihm so etwas hatte antun können. Nach allem, was zwischen ihnen gewesen war.
Als er beim Bäcker angekommen und schließlich an der Reihe war, bestellte er drei Brezeln und eine Mohnschnecke. In der letzten Zeit aß er gerne Süßes. Da er es nicht passender hatte, bezahlte er mit einem 20-Euro-Schein. Wie gewohnt zählte er nachlässig das Wechselgeld. Die Kassiererin hatte ihm fünf Euro zu viel rausgegeben. Normalerweise war er der Typ, der so ein Missverständnis sofort aufklärte. Maria hatte ihn oft wegen seiner übertriebenen Ehrlichkeit aufgezogen. Heute aber, und er konnte selber nicht verstehen warum, dachte er sich nur "Was solls?" und verließ das Geschäft mit seinen fünf Extra-Euro.



Die Abende hatte Georg in den letzten zwei Wochen damit verbracht, sich im Bett auf seinem Handy youtube - Videos anzusehen, bis er schließlich einschlief. Das war besser, als sich in den Schlaf zu weinen. Er interessierte sich zur Zeit sehr für Sam Harris, einen amerikanischen Neurowissenschaftler und Philosophen. Und so klickte er ohne lange zu überlegen das neueste Video auf dessen Kanal an "Warum der freie Wille eine Illusion ist".
Der Gedankengang des Wissenschaftlers war folgendermaßen: Wenn im Universum jede Wirkung auch eine Ursache hat, dann ist unsere physikalische Wirklichkeit streng deterministisch. Mit einem sehr leistungsfähigen Computer könnte man also die Zukunft vorhersagen. Aber Sam Harris ging weiter. Da auch unsere Gehirne nur physikalische Objekte sind, geht es auch in ihnen streng deterministisch zu und das bedeutet nichts anderes, als das unser Gefühl, einen freien Willen zu haben, nur eine Illusion ist.
Auch die Quantenmechanik, die zwar nicht deterministisch ist, ließe keinen Raum für den freien Willen, da hier alles zufällig geschehe. Zufällige Prozesse in unserem Gehirn könnte man aber kaum als freien Willen bezeichnen.
Georg konnte dieser Argumentation nichts entgegensetzen, fühlte sich aber trotzdem unwohl bei dem Gedanken, offenbar nichts als eine sehr komplexe Maschine zu sein. Er löschte das Licht. Kurz vor dem Einschlafen war ihm noch etwas eingefallen. Er fuhr kurz aus dem Bett hoch, konnte sich dann allerdings nicht mehr erinnern, woran er gedacht hatte.


Am nächsten Morgen rief er mit klopfendem Herzen Maria an. Er hatte eine Entscheidung getroffen. "Hey Schatz, ich finde wir sollten nochmal über alles reden. Du hast mich sehr verletzt, aber ich liebe dich und ich will dir noch eine Chance geben"
Zuerst herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Dann schluchzte Maria heftig auf. Es dauerte lange, bis sie wieder in der Lage war, normal zu sprechen.

Am nächsten Abend lag Georg mit Maria im Bett. Sie war bereits eingeschlafen. Er beugte sich zu ihr hinunter und roch heimlich an ihren Haaren. Er liebte den Geruch ihres Shampoos.
"Das war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe", dachte er sich.
Dann holte er sein Tagebuch hervor. Lange hatte er nichts mehr hineingeschrieben, aber heute hatte er ein starkes Bedürfnis dazu.

Er schrieb:

11.11.2022

Ich bin wieder mir Maria zusammen. Es schaudert mich bei dem Gedanken, dass ich fast so blöd gewesen wäre, sie für immer aufzugeben. Das alles verdanke ich im Grunde Sam Harris. Er hat Recht. Es gibt keinen freien Willen. Daran habe ich keine Zweifel mehr. Und wenn es keinen freien Willen gibt, ist es nicht Marias Schuld, dass sie mich betrogen hat. Das alles war nicht mehr als ein Unfall. Mit Leichtigkeit habe ich ihr verziehen.

Dieses Wissen wird mein ganzes Leben verändern. Ich werde ab jetzt jedem Menschen alles verzeihen können. Den anderen und auch mir selbst.

Nächte lang war ich schon wach gelegen und habe mich gemartert bei dem Gedanken, wie anders mein Leben verlaufen wäre, hätte ich nur andere Entscheidungen getroffen. Doch diese Fragen sind müßig. Ich hätte nie anders handeln können. Alles was passiert und was passieren wird, stand schon seit jeher fest, seit es das Universum gibt.

Es gibt keinen freien Willen. Das heißt auch, es gibt keine bösen Menschen. Wir sind Opfer unseres Gehirns und unserer Lebensumstände. Habe ich gerade das Rezept für die bedingungslose Liebe zu allen Menschen gefunden? Darüber will ich morgen auf jeden Fall nachdenken.
Eziotar ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.11.2022, 12:46   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo Eziotar,

eine interessante Geschichte. Sicher könnte man stilistisch noch etwas feilen, aber der Grundgedanke, der der Geschichte zugrunde liegt, ist schon faszinierend (ich glaube es zwar trotzdem nicht, dass man keinen freien Willen hat, es sei denn, aus gesundheitlichen Gründen oder besser gesagt bei Krankheit).

Jedenfalls gerne gelesen.

Schöne Grüße
DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.11.2022, 14:43   #3
weiblich Ilka-Maria
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Hallo, Enziotar,

deine Geschichte liest sich flüssig und von der Rechtschreibung her angenehm.

Einige Anmerkungen:

Die Umgebung des Protagonisten könnte man plastischer beschreiben, damit der Leser davon ein genaueres Bild bekommt. Das schafft Atmosphäre. Wo hat er zu Mittag gegessen? Im Firmencasino oder in der Stadt? Es wirkt dramaturgisch stärker, wenn jemand, dem speiübel ist, nicht nur das Essen wieder ausbricht, sondern es auskotzt, bis nur noch Verdauungssäfte aus dem Magen kommen. Aber dies nur als Tipp.

Zweiter Absatz: "ganz zu Beginn". Füllwörter wie "ganz", "sehr" usw. sind unnötig und stören den Leser nur. Das gilt für die meisten Superlative.

In Absatz drei ist erklärungsbedürftig, wieso Georg eine Männerstimme vom ersten Stock bis ins Parterre hören kann, obwohl dieser Mann flüstert. Statt "seine Frau" hätte ich den Vornamen, also Maria, genannt.

Nächster Absatz: Die Frage Georgs an seine Eltern in puncto Bäcker kommt zu sprunghaft. Als Leser reibe ich mir die Augen: Georg fragt ernsthaft, ob er Maria und ihrem Liebhaber etwas vom Bäcker mitbringen soll? Hier hätte ich eine deutlichere Zäsur für den zeitlichen Abstand zum vorherigen Geschehen gemacht.

Die Bäckerei-Szene: Gute Idee, Georgs angekratzte Psyche durch seine veränderte Haltung zur Ehrlichkeit zu symbolisieren. Er rächt sich an einer Unbeteiligten, was seine Hilflosigkeit zum Ausdruck bringt.

In der Fortsetzung irritiert der Text durch zu viel Wissenschaft. Die Frage nach dem freien Willen, mit dem Georg ein Instrument zu finden hofft, Maria verzeihen zu können, könnte man philosophischer behandeln. Ist aber Geschmackssache.

Das Ende der Story hat mich ein wenig enttäuscht. Wäre es nicht Marias Sache gewesen, Georg um Verzeihung zu bitten? Hätte es nicht genügt, ihr lediglich ein Signal zu geben, dass Georg bereit ist, sich mit ihr auszusprechen? Statt dessen liefert er sich ihr bedingungslos aus. Psychologisch ist das für mich nicht stimmig, denn in so kurzer Zeit heilt ein derartiger Vertrauensbruch nicht, an so etwas muss man arbeiten. Nach einer solchen Erfahrung wird nichts mehr, wie es vorher war. Ein bisschen bleibt das Gefühl zurück, dass Georg ein Trottel ist, der alles mit sich machen lässt. Da hilft auch nicht die Ausrede, es gebe keinen freien Willen, eine Frage, über die sich die Gehirnforscher ohnehin nicht einig werden können.

Da Georgs Tagebucheintrag vom "11.11." datiert, bin ich mir allerdings nicht sicher, ob der Erzähler ihn absichtlich als einen Narren kenntlich machen will. Aber vielleicht ist das Datum nur ein Zufall.

LG
Ilka
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.11.2022, 18:47   #4
männlich Eziotar
 
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Beiträge: 36


Standard Hallo

Hallo Silbermöwe

Das freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat. Ich glaube tatsächlich nicht an einen freien Willen. Ich wüsste nicht wo er herkommen soll.


Hallo ilka-maria

Vielen Dank für deine konstruktive Kritik! Das hilf mir sehr. Du hast Recht, es kommt vielleicht etwas zu plötzlich, dass der Protagonist Maria verzeiht. Denn selbst wenn man Entscheidungen nicht frei trifft, sagen sie ja dennoch etwas über uns aus. In dem Fall vielleicht, dass Maria ihn einfach nicht so sehr liebt wie er sie. Den Schluss würde ich heute anders schreiben.

Viele Grüße
Eziotar
Eziotar ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.11.2022, 19:34   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Eziotar Beitrag anzeigen
Du hast Recht, es kommt vielleicht etwas zu plötzlich, dass der Protagonist Maria verzeiht.
Das hatte ich mit "plötzlich" nicht gemeine, Eziotar. Ich meinte schreibtechnisch den abrupten Übergang von der Schlafzimmerszene zum "Bäcker"-Dialog:

Zitat:
Seine Frau lag unter einem Bettlaken. Schock und Scham waren ihr ins Gesicht geschrieben.
Georg brachte nichts weiter zu Stande als ein ungläubiges und verzweifeltes Stöhnen.
"Soll ich euch etwas vom Bäcker mitbringen?", rief Georg, der schon mit den Schuhen im Flur stand, bereit loszugehen.
Erst in der Antwort der Mutter, die dann folgt, wird dem Leser klar, dass Zeit und Schauplatz gewechselt haben. Es fehlt also das Bindeglied zwischen der Introduction Scene und der neuen Szene. So einen abrupten Wechsel kann man in einem Film machen, wo die Bilder ausdrücken, dass Ort und Zeit sich geändert haben. Aber in einer Erzählung löst das, wenn es nicht sehr geschickt gemacht wird, Verwirrung aus.

Zum Beispiel hätte man die Schlafzimmerszene so enden lassen können:
Georg brachte nichts weiter zu Stande als ein ungläubiges und verzweifeltes Stöhnen. Was sollte er tun? Seine Gedanken überschlugen sich, und da er keine Ordnung hineinbringen konnte, floh er aus der Wohnung ...

"Soll ich euch etwas vom Bäcker mitbringen?", rief Georg, der schon mit den Schuhen im Flur stand, bereit loszugehen
.
Oder:
Georg brachte nichts weiter zu Stande als ein ungläubiges und verzweifeltes Stöhnen. Er war ratlos. Keine Sekunde lang kam ihm in den Sinn, seinen Nebenbuhler zu beschimpfen oder ihn gar zu verprügeln, denn Gewalt in jeglicher Form war ihm zuwider. Wie von Sinnen drehte er sich um und lief davon.

"Soll ich euch etwas vom Bäcker mitbringen?", rief Georg, der schon mit den Schuhen im Flur stand, bereit loszugehen.
Vielleicht ist jetzt klarer, was mich an dieser Stelle des Textes stutzig gemacht hatte.

LG
Ilka
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.11.2022, 07:34   #6
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Hallo Eziotar,

Zitat:
.Das freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat. Ich glaube tatsächlich nicht an einen freien Willen. Ich wüsste nicht wo er herkommen soll.
nehmen wir mal ein völlig banales Beispiel: Alle deine Freunde fahren gerne Achterbahn, du nicht. Nehmen wir mal an, ihr seid zusammen auf dem Rummel und deine Freunde wollen dich überreden, dass du mit ihnen in die Achterbahn einsteigst und eine Runde mitfährst. Du hast aber Angst davor.

Ich glaube schon, dass dein freier Wille reicht, um „Nein" zu sagen.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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