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Alt 07.11.2022, 21:07   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Morgen ist auch noch ein Tag

"Was ist denn mit dir los?". Rutger schaute auf Bennos zitternde Hand, als dieser seine Kaffeetasse vom Unterteller hob. "Du bist ja ganz aufgeregt."

Benno stützte eine Seite der Tasse mit der anderen Hand, um leidlich daraus trinken zu können, ohne etwas von der Flüssigkeit zu verschütten. Er antwortete nicht sofort, sondern wartete ein paar Sekunden, bis die Tram an der Straßenterrasse des Cafés vorbeigerattert war, um nicht zu laut und für die anderen Gäste vernehmbar sprechen zu müssen. "Was wohl? Ulla. Sie macht mich fertig."

Rutger runzelte die Stirn. "Du übertreibst. Ulla ist ein nettes Mädchen. Ein bisschen altklug und energisch vielleicht, aber sonst …"

Benno stieß ein "Pff'" zwischen den Lippen hervor. "Du hast keine Ahnung. Zu dir ist sie nett, aber du bist nicht ihr Vater. Mit mir springt sie um wie mit einem Dorftrottel. Nichts geht ihr schnell und gut genug, und ständig melkt sie meine Brieftasche. Der reine Sklaventreiber und Ausbeuter. Wenn es erlaubt wäre, die Peitsche zu schwingen, wäre ich schon halbtot."

"Jetzt übertreibst du wirklich."

"Kein bisschen. Sie wird ihrer Mutter immer ähnlicher …"

"Marion war sehr schön."

"Richtig, und gefährlich wie die Göttin Kali. Die mit der Halskette aus Totenschädeln. Kennst du doch."

Rutger lachte und schüttelte den Kopf. "Nein, mein Lieber, von einer Göttin mit derart makabrem Schmuck habe ich noch nie gehört."

"Du machst dich über mich lustig."

"Jetzt erzähl mal, was los ist. Gab's Streit?"

Benno nickte wieder. "Und nicht zu knapp. Was zu viel ist, ist zu viel." Er steckte sich eine Zigarette an. "Erst macht sie mir Vorschriften, was ich zum Elternabend anzuziehen habe, um sie nicht 'vor ihren Lehrern zu blamieren'. Als sei ich der letzte Penner der Stadt. Dann fragt sie, ob ich nicht endlich mal die Steuererklärung fertigmachen wolle, da bekäme ich jede Menge Geld zurück, das 'wir beide gut gebrauchen könnten". Wohlgemerkt, 'wir beide'. Obendrein soll ich mich mit meinem Vermieter anlegen, weil der Zug ihres Rollos klemmt und sich das Ding nur noch halb hochziehen lässt. Und dann legt mir das Gör auch noch einen Einkaufszettel hin und meint, ich solle, wenn ich schon Urlaub habe, die Zeit nutzen, pfiffiger einzukaufen und zwischendurch mal 'etwas Leckeres und Genießbares' auf den Tisch zu bringen. Ein brandneues Kochbuch von so einem Viersterne-Guru hat sie mir schon vor drei Tagen auf den Schreibtisch geknallt, statt sich von ihrem Taschengeld Lippenstifte und Augentusche zu kaufen und sich wie andere Mädchen zu benehmen. Das Fass ist heute übergelaufen, wir haben uns angebrüllt, und dann hat sie die Haustür zugeschmissen und ist zur Schule abgehauen."

Rutger konnte ein breites Grinsen nicht lassen. "Die Kleine scheint zu wissen, was sie will. Erstaunlich für ihre fünfzehn Jahre."

"Du hast gut reden. Dir fällt weder eine durchgeknallte Ehefrau, noch eine überspannte Tochter tagtäglich auf die Nerven."

"Mach mal halblang, Benno. Marion hast du mit deiner Gemütlichkeit, die andere Leute als Phlegma bezeichnen würden, erfolgreich aus dem Haus geekelt. Wo wärst du denn heute ohne ihr Temperament und ihre Energie?"

Bennos Miene verdunkelte sich, und seine Stirn bildete Furchen. "Was soll das heißen?"

"Sei doch ehrlich zu dir. Brauchst du nicht regelmäßig einen Tritt in die Hinterbacken, damit du wenigstens ab und zu in Schwung kommst und einen Sprung vorwärts machst? Bei dir läuft fast alles nach dem Motto: 'Komm ich heut nicht, komm ich morgen'. Das kann Menschen, die es nicht mit der Prokrastination haben, sondern lieber Haken an ihre Erledigungslisten machen, mächtig auf den Senkel gehen."

Benno vergaß, an seiner Zigarette zu ziehen. "Die Pro … was?"

"Prokrastination. So nennt man das krankhafte Verhalten, alles auf die lange Bank zu schieben, bis die Hütte brennt und man zum Brunnen rasen muss, um Wasser zu holen."

"Krankhaft? Hast du sie noch alle? Was ist daran krankhaft, sich nicht von jedem Zampano herumkommandieren und durch die Gegend jagen zu lassen. Und weshalb, um Himmels Willen, soll ich mich wegen eines Rollos mit meinem Vermieter verkrachen?"

"Wetten, dass du gar nicht weißt, ob dein Vermieter den Rollo ohne Palaver reparieren lassen würde, weil du ihn noch gar nicht deswegen angesprochen hast?"

"Du kannst einem den ganzen Nachmittag verhageln."

"Und das kann ich sogar richtig gut. Wann bekomme ich eigentlich meine Elektrosäge zurück, mit der du vor Monaten die Hecke um deine Terrasse herum stutzen wolltest? Das Grünzeug muss schon so hoch stehen, dass es der Familie im ersten Stock durch das Wohnzimmerfenster zuwinkt."

"Weiß du, was du bist?"

Rutger zog die Augenbrauen hoch. "Nun?"

"Du bist ein nerviges, unausstehliches …"

Statt den Satz zu Ende zu sprechen, presste Benno die Lippen aufeinander. Scheinbar resigniert ließ er sich gegen die Rückenlehne seines Sitzes fallen und die Schultern sacken, zündete sich lässig eine neue Zigarette an und schwieg trotzig. Aber Rutger hatte Spaß an der Unterhaltung gewonnen und keine Absicht, sich das Amüsement verleiten zu lassen. "Hast du vergessen, was ich bin?", stichelte er. "Oder kommt da noch etwas? Vielleicht in einer Stunde, oder morgen, oder in vierzehn Tagen?"

Benno zog an seiner Zigarette. Seine Hände waren ruhig geworden, und in seinen Blick trat das Funkeln eines Widerstandskämpfers. "Gute Idee", erwiderte er. "Morgen ist auch noch ein Tag. Und übermorgen auch, du Arschloch."
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.11.2022, 17:19   #2
männlich Eziotar
 
Dabei seit: 11/2022
Beiträge: 36


Standard Interessant

Interessante Geschichte, sehr gut geschrieben! Gerne gelesen!
Gruß
Eziotar
Eziotar ist offline   Mit Zitat antworten
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