Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Kolumnen, Briefe und Tageseinträge

Kolumnen, Briefe und Tageseinträge Eure Essays und Glossen, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 01.11.2022, 17:28   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.103

Standard Der Ernst des Lebens

Die Zukunft gibt es nicht. Sie wird künstlich erschaffen, und zwar mit einem einzigen Satz, und der lautet: "Jetzt beginnt der Ernst des Lebens."

Dieser Satz ist das Brandmal, das jeden Menschen ereilt, der das Glück oder Unglück hat, in eine Gesellschaft hineingeboren worden zu sein, für die er von Nutzen zu sein hat, wenn er nicht in der Gosse landen und eines frühen, von allen Menschen, Geistern und sozialen Werten verlassenen Todes sterben will.

Eigentlich beginnt der "Ernst des Lebens" aber schon früher, nämlich mit der Schokoladen-, Bananen und Bonbon-Tüte, die man uns als Sechsjährige bei der Einschulung in den Arm drückt, diese Büchse der Pandora, aus die die Generäle hüpfen, die uns zu steifen Zinnsoldaten machen.

Mit sechs Jahren sind wir quasi fertig. Wir sind kleine Erwachsene, die auf den "Ernst des Lebens" gedrillt werden, "guten Morgen" zum Lehrer sagen und ein Morgengebet sprechen, ehe man sich brav hinsetzt und dem Gekreisch der Kreide an der Tafel und dem Gelaber des Lehrers zuhört, der uns Wissen vermitteln will, das wir längst aus Büchern besser kennen. Weil wir nämlich immer wieder neue Bücher lesen, während der Lehrer vorträgt, was er seit zwanzig Jahren oder länger vorträgt. So jedenfalls habe ich es erfahren.

Zu Hause sieht es nicht besser aus. Wir sind Kinder einer neuen Generation und stellen Fragen. Wieso darf man sich nicht scheiden lassen? Was hat es mit Liebe zwischen Männern und Männern und zwischen Frauen und Frauen auf sich? Warum geniert sich meine Mutter, sich von meinem Vater vor meinen Augen in den Arm nehmen zu lassen? Warum darf ich im Fernsehen keinen Film wie "Undine" sehen, obwohl ich schon vierzehn bin? Warum hat mich meine Mutter nicht aufgeklärt und sich auf den angeblich fortschrittlichen Schulunterricht verlassen, der nichts anderes war, als uns die Vermehrung der Bienen beizubringen?

Es gibt keinen "Ernst des Lebens", nur das Leben im Hier und Heute und die Erfahrung im Hier und Jetzt. Was passiert, passiert eben, und das muss ich nehmen, wie es ist und damit leben. Und dann muss ich selbst entscheiden, ob ich damit glücklich bin oder nicht. Nach dem Mund gebacken bekomme ich nichts. Und die Zukunft kann mich kreuzweise …

01.11.2022
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.11.2022, 08:56   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 61
Beiträge: 6.715

Hallo Ilka,

interessante Betrachtung, der ich nur zustimmen kann.

Zitat:
.Weil wir nämlich immer wieder neue Bücher lesen, während der Lehrer vorträgt, was er seit zwanzig Jahren oder länger vorträgt. So jedenfalls habe ich es erfahren.
Ich musste auf dem Gymnasium eine Klasse wiederholen und war regelrecht schockiert: Der Lehrer erzählte ja genau dasselbe wie letztes Jahr! Manchmal sogar die gleichen Witze zu der gleichen Sache ...

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.11.2022, 00:15   #3
männlich halblicht
 
Benutzerbild von halblicht
 
Dabei seit: 12/2021
Beiträge: 66

hi ilka

gefällt mir. nicht nur der inhalt, auch der stil, sowas lese ich gern. ich spüre verachtung, wiederstand und eine mege trotz. ob das von der geschichte kommt oder von mir, keine ahnung.

ich nenne sie die außer kontrolle geratene maschine. ob zahnrad oder niete entscheidet geburtsort und gedächnisleistung nach der einschulung. keiner ist frei, ganz besonders die nicht, die sich einbilden frei zu sein.

und nun, was tun?
resistance is futile

ich mag dieses zitat von ivan illich

Zitat:
„Zu verlangen, dass sich unsere Kinder in der Welt, in der wir leben, wohlfühlen, ist eine Beleidigung ihrer Würde.“
hier schau ich wieder rein

grüße
halblicht
halblicht ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der Ernst des Lebens



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Der Ernst der Jugend (Ein Drabble) Ex-Ralfchen Geschichten, Märchen und Legenden 2 23.06.2021 23:37
Der Ernst des Lebens Schmuddelkind Humorvolles und Verborgenes 2 22.03.2013 12:56
Der Ernst des Lebens - Einschulung wirbel72 Zeitgeschehen und Gesellschaft 0 14.07.2011 07:22
Ernst der Lage Jeanny Düstere Welten und Abgründiges 8 19.06.2007 23:23


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.