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Alt 28.10.2022, 23:36   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Zickenkrieg

"Judy! Durchgeknallt wie immer! Beschmiert sie ihre Fingerkuppe jedes Mal mit Pattex, bevor sie auf die Klingel drückt? Wieso haut ihr Peter nicht mal auf die Pfote?"

Kristina rollte die Augen. "Du kennst Judy lange genug, also was sollen die albernen Fragen? Bring dich lieber in Schwung und mach die Tür auf."

Frederick stellte das Cognac-Glas ab, an dem er genippt hatte, und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. "Wie kann ich die Tür öffnen, wenn ich meine Hände dazu brauche, mich vor Judys Penetranz zu schützen?"

"Du bist noch durchgeknallter als sie", blaffte Kristina ihn an, rannte selbst zur Tür und drückte auf den Summer. Augenblicklich hörte das Sturmgeläut auf, und zwanzig Sekunden später standen Judy und Peter vor dem Eingang zu Kristinas und Fredericks Wohnung. Peter hob mit einem entschuldigenden Seitenblick auf seine Frau die Schultern und wischte sich die Schneeflocken vom Revers seines Wintermantels.

Judy trug einen leichten Pullover mit Dreiviertelarmen über einer Bermuda-Jeans. Ihre nackten Füße steckten in Sandalen. "Wieder auf Kneipp-Kur, meine Gute?" Frederick wäre erstickt, hätte er sich diese sarkastische Bemerkung versagen müssen. Er wartete keine Antwort ab, sondern drückte Judy einen Willkommensgruß auf die Wange, ehe er sich Peter zuwandte und ihn kurz in den Arm nahm. "Kommt rein. Der Sekt steht schon im Eiskübel."

"Wie machst du das, nicht zu frieren bei diesen mörderischen Temperaturen?", fragte Kristina in der Küche, während Judy ihr half, die Schinken- und Käseschnittchen mit Trauben, Ananas und Oliven zu verzieren und dabei den Mumm Extra Dry zu trinken, den ihr Frederick zum Auftakt des geselligen Abends in die Hand gedrückt hatte.

"Wieso mörderisch?", fragte Judy und schob sich ein Stück Ananas in den Mund. "Es ist doch mild dafür, dass wir Januar haben."

Kristina ließ ungläubig den Korkenzieher los, mit dem sie gerade angesetzt hatte, eine Flasche Rotwein zu öffnen "Wir haben zwei Grad über dem Gefrierpunkt, es schneit seit Stunden, und für die Nacht ist Frost angesagt!"

Judy biss in eins der Weißbrotschnittchen. "Für mich ist das warm", erwiderte sie, während sie das Schnittchen in wenigen Sekunden verschlang und nach einem weiteren griff. "He, lass das!", protestierte Kristina. "Du frisst ja schon alles weg! Die Männer wollen auch etwas davon abhaben."

"Die sind schon fett genug", erwiderte Judy und kaute genüsslich weiter.

"Du etwa nicht?"

Judy hielt in ihrer Absicht inne, in das Feinkostglas zu greifen und die restlichen Oliven herauszufischen. In ihre Augen trat ein gefährliches Funkeln. "Was soll das heißen?"

Autsch, dachte Kristina, da ist mir etwas rausgerutscht!

Sie hatte in eine Wunde gegriffen. Aber war das ihr Problem? Oder war es nicht vielmehr Judys Problem? War es nicht an der Zeit, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, die sie schon immer gedacht, aber aus freundschaftlicher Rücksichtnahme für sich behalten hatte?

Worte kommen nicht zurück. Ein Prolog fordert die ganze Geschichte, und so wetterte Kristina los: "Was das heißen soll? Das kann ich dir genau sagen: Es wundert mich kein bisschen, dass du keine Kälte mehr empfinden kannst, so dick und fett, wie du bist. Dich polstern mehr Speckschichten als einen Pottwal, und genauso siehst du aus. Du könntest locker jede Eiszeit überleben. Ein Neandertaler war gegen dich ein Hänfling."

Judys Gesicht färbte sich rosarot, und ihre Halsschlagader zeigte an, dass sich ihr Puls beschleunigt hatte. Mit einem kurzen Ruck hob sie die Platte mit den Schnittchen an und ließ eins nach dem anderen auf den Küchenboden gleiten, wo sie mit dem Belag nach unten liegenblieben. In ihre Augen trat Triumph, als sie Kristinas entsetzten Blick sah. Dann legte sie los: "Was glaubst du, was du bist, du Salzstange und Bittermandel? Du hast dich immer für etwas Besseres gehalten mit deiner Wespentaille. Dabei hast du eine Visage wie des Teufels Großmutter und eine Laune wie kalte Asche. Wenn bei dir mal nur kaltes Wasser aus der Dusche kommt, denkst du an Selbstmord, und wenn dir beim Kämmen ein paar Haare ausgehen, wirst du hysterisch. Ich frage mich noch heute, wie sich Frederick in so ein halbverhungertes Huhn wie dich vergucken konnte, das beim ersten Luftzug von der Stange fällt."

Kristina war blass geworden. "Das reicht. Raus hier!", schrie sie Judy an. "Augenblicklich raus!"

Alarmiert von dem Geschrei stolperte Peter in die Küche, dicht gefolgt von Frederick. "Was ist denn hier los?!"

"Ich will", sagte Kristina, bemüht, ihre Stimme zu senken, "dass du diesen verfressenen Fettarsch, den du deine Frau nennst, aus meiner Wohnung entfernst. Und zwar sofort."

"Moment mal", wandte Frederick ein, "das ist auch meine Wohnung. Und Peter ist mein Freund."

"Okay, dann kannst du ja gleich mitgehen."

"Du hast sie wohl nicht mehr alle!"

"Jetzt komm mir bloß nicht auf diese Tour. Ich muss mich nicht in meinen eigenen vier Wänden von dieser Monsterzicke beleidigen lassen."

"Du hast damit angefangen", bellte Judy sie an. "Ich habe mich lediglich gewehrt."

"Was war denn wirklich vorgefallen?", versuchte Frederick, das Gespräch auf eine vernünftige Ebene zu manövrieren in der Hoffnung, dann den Streit schlichten zu können. Doch Kristina ignorierte sein Angebot und erdolchte ihn mit ihren Blicken. "Ich bin nicht verpflichtet, mich zu rechtfertigen oder dich zu meinem Anwalt zu ernennen."

"So geht das aber nicht. Sei doch vernünftig." Frederick sah Peter an, der stumm und hilflos dabeistand, was nur noch mehr Wasser auf Kristinas Mühle schwappen ließ ."Und dieser Depp glotzt blöd wie ein Fisch und bringt das Maul nicht auf, statt mal ein Machtwort zu sprechen," keifte sie.

"Kristina, hör bitte auf! Du gehst zu weit. Wir wollen doch nicht …". Kristina schnitt Frederick das Wort ab und sah ihn herausfordernd an. "Ich oder die beiden. Du hast die Wahl." Er senkte betreten die Augen und schwieg. "Okay, guys. Ich hab's kapiert." Sie ging in den Flur, nahm ihren Wintermantel und ihre Handtasche und knallte beim Verlassen der Wohnung die Tür zu.

"Wo geht sie hin?", fragte Peter. Frederick zuckte die Achseln. "Weiß nicht. Wahrscheinlich zu Marios Bar. Dort machen die Gäste durch bis fünf Uhr früh. Sie geht fast immer zu Mario, wenn wir Krach haben." Er betrachtete die Schweinerei auf den Fliesen. "Was wird jetzt damit?"

"Na ja", antwortete Peter und zupfte sich verlegen am Ohr, "was noch genießbar ist … Hunger hätte ich schon. Oder was meint ihr?"

Die Frage wurde mit Blicken der Verständigung einhellig beantwortet. Frederick machte die Flasche Rotwein auf, die Kristina neben das Spülbecken gestellt hatte, und gemeinsam kratzten er, Peter und Judy die Schnittchen vom Boden, stopften sich den Mansch in den Mund und spülten ihn mit dem Wein und noch einer weiteren Flasche Wein die Kehlen hinunter.

Als Kristina zurückkam, war die Küche aufgeräumt, der Boden war geputzt und das Geschirr in den Spüler eingeräumt. Frederick schnarchte in seinem Bett.

Sie machte einen Tagebucheintrag: Judy für immer gestrichen. Längst überfällig. Peter hätte ich gerne behalten. Aber er ist ein noch größerer Trottel als Frederick.

Dann ging sie zu Bett.
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