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Alt 20.09.2015, 19:53   #1
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Standard Vor der Klausur

Es herrschte damals Mangel an Pflegepersonal, und das Krankenhaus, dem ich ein Zeugnis über meine Pflegekünste vorlegte, registrierte mich, den Studenten, für einen Nebenjob. Schon der erste Anruf kam mir aber ungelegen, denn ich sollte innerhalb von zwei Stunden im Nachtdienst beginnen und schrieb ausgerechnet am nächsten Tag eine Klausur. Dennoch sagte ich den Dienst zu, um in der Liste nicht gleich nach hinten zu rutschen.

Der Patient, bei dem ich die Sitzwache übernahm, war am Nachmittag noch zu Fuß gekommen, nachdem er leichte Atemprobleme spürte. Die Untersuchung ergab, dass die Sache leider nicht harmlos war. Adern der Luftröhre waren geplatzt, und man setzte ihm sofort eine Ballonsonde ein, um die Blutung durch Kompression zu stillen. Jetzt lag er in einem Einzelzimmer der HNO-Station.

Ich hatte keine Ahnung, wie lebensbedrohlich Ösophagus-Varizen sind. Die Oberschwester, die Nachtwache hatte, klärte mich nur wenig auf. Ich solle sie holen, wenn es Komplikationen gebe. Wäre sie einmal nicht in ihrem Zimmer, fände ich sie, wo das Licht über einem der Patientenzimmer leuchte. Sie habe heute zwei Stationen zu betreuen.

Ich zog den Kittel über, steckte das Skript für die Klausur in die Kitteltasche, entnahm dem Krankenblatt die Daten und stellte mich dem Patienten vor. Der Mann war erst vierzig, aber bleich und kaltschweißig, sprach leise mit zitternder Stimme und machte einen ängstlichen Eindruck. Ich wusste nicht recht, wie ich ihn aufmuntern konnte. Ich setzte mich neben das Bett und sagte, dass ich ja da sei, und er sich keine Sorgen machen müsse.

Er begann sich wirklich zu beruhigen und nach einer Weile schien es, dass er schlief. Der Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, ein leichtes Röcheln war bei jedem Einatmen zu vernehmen. Ich saß eine längere Weile still da, blickte auf die geschlossenen Lider, das wirre Haar und die feuchte Stirn und glaubte eine Verbesserung seines Zustands zu bemerken.

Weil ich nun nichts weiter tun konnte, nahm ich das Skript aus der Kitteltasche, blätterte ein wenig darin und vertiefte mich schließlich in den Lernstoff. Ich hatte einiges in der Vorlesung nicht verstanden und kam wieder an diese Stellen, und ein leichtes Bangen um mein Glück am nächsten Tag spannte mich unwillkürlich an. Doch erfreulicherweise begriff ich sie langsam eben gerade jetzt.

In diesem Moment begann der Patient lauter zu röcheln. Ich sah, dass er die Augen aufgerissen und einen Arm in die Höhe gestreckt hatte. Eilig verbarg ich den Lernstoff in der Tasche, stand auf, beugte mich über ihn und fragte, was er denn für Beschwerden habe.
Er zeigte mit dem Arm auf etwas, eine Art Blasebalg auf dem Schrank, hob sehnsüchtig den Kopf, öffnete den Mund und flüsterte dann, dass er keine Luft bekomme, nein, keine Luft. Er ließ den Mund so offen stehen. Ich war nicht sicher, ob ich ihn jetzt allein lassen konnte, um die Nachtschwester zu holen, fühlte mechanisch den Puls, der flach ging und sagte, er solle sich nicht aufregen, der Arzt würde gleich nach ihm sehen.

Er sank ins Kissen zurück, verfallener als vorher, flüsterte noch einmal Luft, schloss den Mund dann und schließlich die Augen und schien wieder ruhiger zu sein und in den Schlaf zu sinken. Der Brustkorb bewegte sich weiterhin, zwar nur sehr leicht, aber vielleicht brauchte er gerade nicht so viel Luft. Es war gewiss nicht nötig und übertrieben, Alarm zu schlagen.

Ich setzte mich wieder, wartete, nahm nach einer Weile das Skript hervor und suchte die Stelle, an der mein Begreifen unterbrochen worden war. Nun versank ich tiefer in den Stoff und wirklich, ich kam immer besser, immer besser voran.

Eine erneute Unruhe war schon länger vom Bett hergekommen und ließ mich abschweifen und leicht verärgert aufstehen. Die Bettdecke war zu Boden geglitten. Ich steckte meine Papiere weg, hob das Deckbett auf, bedeckte den Körper damit und merkte, dass der mir anvertraute Patient nicht mehr atmete. Ich spürte es wie einen elektrischen Schlag und rief Hallo! und Herr Wieser, Herr Wieser aufwachen und schüttelte den Leblosen an den Schultern, dass der Kopf nach hinten fiel.

Ich floh aus dem Zimmer, rannte den Stationsgang entlang, fand aber niemanden, nirgends Licht über der Tür, lief die Treppe hinunter zur anderen Station und wieder nach oben und da ging die Schwester gerade in ihr Zimmer. Ich habe Sie schon länger gesucht, keuchte ich und wirkte wohl überzeugend. Die Angeredete telefonierte ohne weitere Nachfrage und übernahm meine Worte. Ja, Herr Doktor, der Patient atmet unregelmäßig.

Ich lief auf meinen Posten zurück, nahm die Nase des stillen Mannes in den Mund und versuchte zum ersten Mal im Leben eine Atemspende, dehnte eine Lunge, die meine Luft nicht mehr verwertete und kühl wieder ausströmen ließ. Ich merkte, wie ich schwitzte, eine bleierne Angst zog alles in mir zusammen und ich hielt mich an dieser Beatmung fest, bis eine Stimme mich erlöste.

Lassen Sie das jetzt, sagte der Arzt. Der Mann ist doch tot.

Ich hätte viel darum gegeben, wenn er gesagt hätte, bravo, Sie haben ihn gerettet! Jetzt sah ich zu, wie der Arzt das Lid anhob, in das starre Auge blickte, einen Schein ausfüllte. Damit war meine erste Sitzwache beendet.

Es fuhr um diese Zeit keine U-Bahn mehr, und ich wanderte mit einem Gefühl der Leere und Schuld durch die nächtlichen Straßen. Als ich ins Zimmer trat, wunderte sich meine Freundin, wie früh ich zurück war. Der Patient ist gestorben, sagte ich, legte mich neben sie, und sie nahm mich tröstend in die Arme.

Ob ich die Klausur damals mitgeschrieben habe, weiß ich nicht mehr.

Geändert von gummibaum (20.09.2015 um 21:43 Uhr)
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Alt 21.09.2015, 08:14   #2
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Sorry, mir ist ein Fehler unterlaufen. Im zweiten Absatz muss es heißen:

"Adern der Luft- und Speiserühre waren geplatzt,... "

Die Sonde wird ja in die Speiseröhre (Ösophagus) gelegt.

LG g
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
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