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Alt 12.02.2011, 21:43   #1
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
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Standard Am Schreibtisch, Teil 2

Er zog sich dichter an die Schreibtischplatte, so dicht, dass er mit der Brust dagegen stieß. Jetzt nahm er einen kleinen Zettelzur Hand und begann hinter kräftigen Zahlen eine Aufstellung der wichtigsten Arbeitsgänge. Das war nicht einfach, aber wollte schnell getan sein. Schnell und klar. Er setzte Punkte hinter die Zahlen. Verstärkte ihren Eindruck, indem er sie in Kreise fasste. Ja: so sah es gut aus. Man konnte mit der Konzentration etwas nachlassen. Er belüftete seine Lungen. Das war jetzt der Grundstein! Er war gelegt. Und jetzt – aber was für ein spärlicher Zettel. Er hatte ja Knicke! Und in den Knicken war die Schrift schwächer und ihre Energie unterbrochen. Er fixierte den Zettel und dachte nach: die Zahlen waren sehr gerade – da war sein Wille – aber die Schrift dahinter – sie fiel eigentlich insgesamt ab, besonders in den Knicken. Auch der Zettel war zu klein. So konnte es nicht bleiben. Er legte ihn von sich. Mein Gott, er hatte viel zu arbeiten! Die Aktenberge und sehr viel loses Papier überhäuften den Schreibtisch. Es musste eine Struktur hineingerissen werden, die seinen Namen trug. Und jetzt das! Doch ruhig. Er musste entscheiden. Er nahm den Zettel auf und zerdrückte ihn dann sehr ruhig erst mit einer, dann mit beiden Händen und warf ihn in den Papierkorb. Aber da stand das Papier schon bis aufs Äußerste heraus, und seine kleine Kugel fiel auf den Boden daneben. Was half es?! Er stand auf und musste sie nochmals anfassen, damit sie in den Papierkorb käme. Einige Zettel raschelten aus der wohlbalancierten Krone aus Papier. Der Vorgänger! – Aber er wäre jetzt ganz ruhig, und er würde auch diese Zettel noch auflesen , und wenn es sein müsste – was schrieb dieser Mann eigentlich auf seine Blätter? Ein Blick genügte, und er merkte, dass er seine Neugier hätte unterbinden sollen. Er legte den Zettel, von einer fremden Nachdenklichkeit betroffen, auf den Wust von Papier zurück und drückte ihn langsam und wie abwesend bis unter den Rand des Korbes ein. Natürlich stützte er sich nicht geradezu auf dies zusammensinkende Gebäude, aber erlöste sich doch wie verzögert davon ab. Er blieb neben den Stuhl stehen, die Hand leicht an der Lehne und sah auf den Schreibtisch. – Er wollte nicht an den Vorgänger denken. Dieser Mann war abgelöst. Er gefährdete ihn nicht. Aber er merkte jetzt, dass die Arbeit hier viel umfangreicher war, als er es sich vorgestellt hatte. Er würde einen größeren Anlauf nehmen müssen. – Es war zwecklos, sich im Augenblick wieder hinzusetzen und diese Einsicht nicht mit einzubauen. Gerade das unterschied ihn nämlich von jedem Vorgänger: dass sie sich hatten an der Arbeit irre machen lassen – und der Papierkorb voll Pläne war ein beredtes Zeugnis davon. Man musste die Arbeit in einem günstigen Augenblick treffen! Dann wäre sie leichthin getan. –
Jetzt hieß es die Zeit zu nutzen und die Umgebung zunächst zu arrangieren und damit seine ordnende Kraft in Progressionen gegen das Unvermeidliche vorzutreiben.
Er erinnerte sich des Abwaschs. Was hatte er die Küche erst verlassen? Dort war sein Platz.
Und er stand auch schon am Becken und beobachtete, wie das Wasser sprudelnd das Spülmittel zu Schaum aufwarf und mit reinigender Kraft die Krusten des Geschirrs entlangkroch. Das tat gut. Voll stiller aber steter Beharrlichkeit, schleichend und wie er drängend und mit Erfolg. Sowie er selbst! Er nahm die Tassen und die Bürste und das Handtuch. Er hatte hundert Hände. Jetzt war der Rhythmus gefunden. Waren nicht andere noch im Bett?! Wie konnte sein Vorsprung besser markiert sein? – Lachend griff er den Schrubber aus der Ecke: denn die Gelegenheit war da, auch gleich noch dem Boden vom Schmutz aufzuhelfen. Die Küche war wie neu. Auch das Bett – kaum konnte er sich im einzelnen verfolgen – war mit Akribie frisch gedeckt. Jetzt schloss er die Tür zum Arbeitszimmer. Sollte der Schmutz doch nicht auf den Flur, in die andern Zimmer dringen, bevor er daselbst ihn einzudämmen wünschte. Ha! Er flog seiner Zeit voraus. Es dankten ihm die Blumen das Wasser, der Kühlschrank stieß tropfend sein Eis ab, die Waschmaschine vibrierte, schon musste er jetzt auf die Fenster, die Schränke, ja, auf das Treppenhaus übergreifen, um seine Revolution noch weiterzutragen. Er schnappte nach Luft. Er merkte, wie eine Spirale sich langsam aufgedreht hatte und jetzt ihre Spannung verlor. Aber er brauchte weiter Bewegung! Seine Gedanken sprangen allseits wie Murmeln auseinander und versickerten spurlos. – Schon fror er. Dabei stand er nur ganz leicht, wie ausgesetzt. Irgendwie war die Bewegung für einen Augenblick weggefangen. Aber er merkte doch: sein Bewusstsein. Es wollte nicht weiter lügen. Langsam öffnete er die zwecklos geballten Fäuste. Nur eine Scheibe in seinem Innern rannte noch weiter und war unerträglich laut, weil sie jetzt leer griff. Dann hörte auch das auf. Er schloss die Augen und befühlte die Leere in seinem Kopf. –
Widerlich duftete es überall nach Fußbodenkosmetik und Wäsche-Fein. Er verzog das Gesicht. In kleinen, leisen, endlosen Wellen kam jetzt die Einsamkeit. Woher? – Er setzte sich in die Küche. Dachte an gestern. An alle Tage. Man musste essen. Man konnte nicht in Abgründe ausgebreiteter Arme springen. Essen: konnte man. Man konnte siogar sehr viel essen. Es war erst Mittag. Und er dachte: warum? – Warum hatte ihn der Nachfolger im Stich gelassen. – Aber man durfte so nicht fragen.
Dieser Mann war angestellt, am Schreibtisch seine Pflicht zu tun. Er öffnete das Arbeitszimmer. Der Schreibtisch war unbesetzt! Es war unglaublich! Was ging hier vor? Würde er sich zum Narren halten lassen müssen?! Er?! Lieber diesen Knilch mit der bloßen Hand zerdrücken! Er rannte in die Küche zurück und holte das Brot. An Ort und Stelle sollte jetzt alles passieren. Er stand in der Zimmermitte und sah an den Wänden hinauf. Dabei er riss er immerzu mit den Zähnen Stücken aus dem Brotlaib, schluckte, ohne auch nur versehentlich zu kauen, dass die Tränendrüsen fast platzten. Riss mit der Hand, die noch frei war, die Hose und dann, was an Potenz nur zur Verfügung stand, herunter. Alles im Akkord. Bis die Kraft zu Ende war. – Aber der Nachfolger zeigte sich nicht. Er war durch Strafe nicht zu beeindrucken.
Es musste sich setzen.
Und so befand er sich jetzt richtig vor dem Schreibtisch und hätte eigentlich mit der Arbeit beginnen können. Aber alles, was damit zusammenhing, hatte inzwischen freilich keine ernst zu nehmende Wirklichkeit mehr. Wie Wärme sich durch ein Vakuum nicht austauscht, blieb die Berührung der Gegenstände hier leer. Befremdliche Verwechslung. – Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf über all das zu zerbrechen. – draußen fielen die Blätter von den Bäumen. Die Vögel retteten sich in den Süden. Und er saß hier drinnen immer noch vor einem Schreibtisch, der völlig unzugänglich war. Er schmunzelte mit ausgedünntem Lächeln die Bücherpagoden an. Auch das Papier im Korb war wieder hochgequollen. – Keiner, überhaupt niemand! Konnte von ihm verlangen, dass dieses hier ein Arbeitsplatz war. –
Eine angenehme Müdigkeit hatte ihn eingeschlossen. Tiefer hatte er sich hinein gewühlt. War das nicht eine herrliche Art, sich aus dem Wege zu gehen? Ganz hinein musste man nur, wo kein Gedanke mehr störte. Warm war es da und dunkel, und man konnte erleben, wie die Hoffnung wuchs, undeutlich wie das Mutterglück. Früher hatte es Zauberer gegeben, die die Menschen bei Bedarf verkleinerten. Heute?! Er zog sich dichter hinein. Da konnte man am eigenen Gewicht verrecken! Man musste sein eigener Helfershelfer sein.
Er sah durch enge Sehschlitze hinaus. Draußen und drinnen: wie diesseits und jenseits – ganz unvereinbar. Man konnte sich beruhigen. Es gab keine Brücke. Man konnte einschrumpfen und warten. Draußen ging die Zeit schneller voran, aber hier drinnen stand sie. Bis der Nachfolger käme: in der Stunde Null – und der brächte sowieso eine neue Zeit mit, in der alles von selber gelänge.
Er fühlte, wie seine eigene Vernunft zu diesem Glauben hin durchstoßen werden musste. Doch jedem Gesetz zu spotten, war die Wahrheit des eigentlich Großen. Und der Nachfolger wäre groß. Das konnte man nicht bezweifeln. Nicht nur die riesige Arbeit hier – es gab eine weitere und tiefere untrügliche Gewissheit. Zusammenhänge mussten bestehen. Er fühlte, dass nichts umsonst. Ohne Sinn sein könnte. Jawohl. Der Nachfolger wollte sich zeigen. Und schickte sich selbst einen Zustand voraus, der ihn und seine Größe forderte. Er schmeckte die Süße dieser Botschaft. Begriff mit einem Mal die höhere Schönheit, den Wert des eigenen Verfalls.
Und war wieder fähig zu atmen. Doch wollte er es nur ganz kurz, zum Zeichen seiner Dankbarkeit tun. Denn er wusste jetzt auch, was seine Aufgabe wäre. Aller Aufschub hatte ein Ende. Der Mann im Schreibtischstuhl war nicht mehr zu halten. Keinen einzigen Atemzug mehr. Man konnte ihm das nicht gestatten. Alle Welt hatte sich längst distanziert und jetzt, da ein Nachfolger – nein! man würde sich lächerlich machen. Der Mann im Stuhl aber schien gar keiner Aufforderung zu bedürfen. Noch saß er, die Hose herunter, die Augen in trockenen Schatten, bewegungslos, doch konnte man spüren, er hatte sich angenommen. Und wollte jetzt wirklich der Vorgänger sein. –
Es war Abend geworden. Er hatte noch einige Dinge zu tun damit der Nachfolger morgen zufrieden wäre. So war er aufgestanden, hatte das Arbeitszimmer verlassen und die Tür zugemacht. Drinnen waren die Brotkrümel ganz richtig auf dem Boden liegengeblieben. Seine Hose, die ihn beim Gehen behindern wollte, hatte er sich noch auf der Schwelle von Knöchel getreten und, weil sie dort liegenblieb, mit der Tür eingeklemmt. Der Ungehorsam der Dinge. Man durfte da keinen Eindruck zeigen. In der Küche hatten ihn auch ein paar Gläser grundlos geärgert. Der Nachfolger würde sich freuen. Da Eingemachte war sogar an der wand hochgespritzt. Hier und da hatte er freilich nachhelfen müssen. Der Nachfolger hatte wissen lassen, er wolle ins Chaos geboren sein. Nichts leichter. Er hatte Rosinen verschüttet. Blumenerde verstreut. Sogar einen Abfluss verstopft. Man durfte nicht zimperlich sein. Größe verlangte nach Schwierigkeit. Wollte sich messen, sich beweisen. Der morgige Tag! Er verteilte jetzt letzte Fingerflecke, trat nochmals an die Tapete. Wer ihn erleben durfte! Ein Funken der neuen Zeit war in ihm doch schon angeschlagen. Er stellte den Wecker auf sechs. Oh, heilige Nacht! Er flüsterte es. Jetzt trug er die Larve zu Grabe. Er legte sie ganz gerade in sein Bett. Und wollte für morgen noch nichts vordenken und gleich und tief einschlafen. Dass könnte wie ein erster Test sein. Dabei ballte er leise die Fäuste.
(1978)
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