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Alt 22.12.2010, 02:26   #1
gummibaum
 
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Standard über Erna

Das Alter kommt in Schüben, sagt Erna. Eine Weile bleibt alles gut, dann wirst du plötzlich wieder schwächer. Jetzt, mit 89, steht sie an der Heizung und friert. Seit draußen Frost ist, wird ihr auch drinnen nicht mehr warm. Sie verachtet sich regelrecht dafür. Mit mir ist nichts mehr los, klagt sie.

Ich hätte damals vom Turm springen sollen. Aber als ich da oben stand, merkte ich, wie schwer es ist. Ich war zu feige. Und was hätten die Kinder von mir gedacht? Kein würdiges Beispiel!

Warum kann man nicht einfach tot umfallen? Schlecht eingerichtet ist das. Ich beneide meine Freundin. Es ging schnell und sie hat Ruhe.

Mit 55 hatte Erna doch noch den Führerschein gemacht. Da waren die Kinder endlich groß. Dann war sie oft verreist. Vieles nachholen. Menschen sehen, Kultur begreifen, Soziales. Erna regte sich heftig auf, wenn etwas wieder ungerecht zuging. Noch heute schreibt sie ihre Leserbriefe.

Aber jeden Tag wird ihr Gang jetzt unsicherer. Sie stützt sich auf, sucht wieder die Brille. Manchmal aber stellt sie noch den Stuhl auf den Tisch und steigt hoch, um die Gardine zurechtzuzupfen. Ich bin wieder gefallen, klagt sie.

In ein Altersheim gehen? Nein! Entschiedene Abwehr. Nur über Krankheit reden will ich nicht. Erna hat ihre Meinung. Ärzte taugen meist nicht viel. Schwiegertöchter sind schwierig. Und soziale Dienste, die für sie den Einkauf machten, hat sie gleich wieder abbestellt. Ich will keine fremden Leute im Haus, sagte sie.

Etwas schwerhörig wird sie. Als eines der Kinder, das sie besucht, darum laut zu ihr spricht, weint sie. Jetzt schreist du mich schon an, weil ich nicht mehr gleich verstehe.

Warum nur heute die Kinder nicht angerufen haben? Sie wissen doch, dass ich nicht schlafen kann und denke, sie sind im Verkehr verunglückt.
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Alt 04.01.2011, 16:32   #2
männlich Ex-pyja8
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Beiträge: 41


Hey,

großartige Kurzgeschichte!
Ich kenne etliche solcher Ernas und deine Beschreibungen
und scheinbar unwesentlichen Alltagsbeispiele treffen sehr
schön die Realität...!
Das Alter hat immer was furchterregendes...!

lg, pyja!
Ex-pyja8 ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.01.2011, 18:56   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Warum nur heute die Kinder nicht angerufen haben? Sie wissen doch, dass ich nicht schlafen kann und denke, sie sind im Verkehr verunglückt.
Den letzten Satz finde ich von der Logik her etwas drollig: Wie kann dann jemand, wenn er tatsächlich verunglückt ist, anrufen?

Erinnert mich an einen lieben Menschen, der immer zu mir sagt: "Wenn Du nichts von mir hörst, ist alles in Ordnung."

LG
Ilka-M.
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Alt 04.01.2011, 20:22   #4
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
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Lieber pyja8, Liebe Ilka,

danke für eure Antworten.

pyja8, es ist eigentlich keine Geschichte, nur eine Kollage aus Beobachtungen, die Ernas Situation skizieren soll. Danke für ein Lob.

Ilka, etwas drollig, ja. Dennoch: beide Aussagen sind für mich verständlich. Die deines lieben Menschen, der sich nur meldet, wenn etwas Schlimmes passiert ist und er Hilfe braucht. Und die von Erna, die sich das Schlimme solange ausmalt, bis ein Anruf sie vom Gegenteil überzeugt: die einsame Erna, die sich Zuwendung wünscht, ohne sie annehmen zu können, fürchtet das Schlimme, weil sie es zugleich begehrt, um gebraucht zu werden.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.01.2011, 21:09   #5
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.076


Jetzt muß ich lachen, Gummibaum, denn natürlich weiß jeder, was gemeint ist. Und so wie Du es in Deinem Kommentar ausdrückst, ist auch halbwegs plausibel. Aber in Deiner Geschichte, genau wie bei "meinem lieben Menschen", stimmt der Ausdruck nicht - er ist unlogisch. Im Alltagsgeplauder mag es dafür genügend Korrektive geben, aber in einem literarischen Text ...? "Naja, ich nehme es mal nicht so genau, der Leser weiß schon, was ich meine." Könnest Du so etwas von einem Literaten akzeptieren, auch wenn er nur ein Hobbyschreiber ist?

LG
Ilka-M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.01.2011, 23:27   #6
männlich Ex-Schamanski
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Beiträge: 2.884


Hier wird mit wenigen und wesentlichen Strichen ein komplettes Bild gezeichnet.
Ganz großes Kompliment.
Ex-Schamanski ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.01.2011, 23:32   #7
gummibaum
 
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Liebe Ilka,

vielen Dank für deine kritische Replik und Frage. Ich kann Unlogik im literarischen Text (egal, ob von Hobby - oder Berufsliteraten) nur akzeptieren, wenn sie auf etwas verweist. "Nachts schlafen die Ratten doch.", ist nicht unlogisch, aber falsch und doch richtig in dem Sinne, dass eine Notlüge an dieser Stelle humaner ist als die Wahrheit. In dem entsprechenden Kontext offenbart sich das.
Ich habe die unlogische Aussage Ernas nicht selbst formuliert, sondern so gehört und niedergeschrieben. Mir ist wichtig, das Unlogische ihres Denkens/Verhaltens zu zeigen. Es ist die Frage, ob dies in dem Kontext, in den ich die Aussage stelle, gelingt. Z.B., ob klar wird, dass es wörtliche Rede ist.

LG gummibaum
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Alt 04.01.2011, 23:58   #8
weiblich Ilka-Maria
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Nein, es ist weder wörtliche noch nichtwörtliche Rede, sondern ganz klassich der Bericht aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters - wie aus dem Lehrbuch für Autoren.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.01.2011, 00:03   #9
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
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Nachsatz: Ilka, zur Unlogik: Goethe kritisierte die Unlogik in Schillers "Bürgschaft", denn wie könne direkt nach "unendlichem Regen" große Hitze und Dürre folgen. Schiller änderte die Ballade nicht. Für ihn war es logisch, dass sein Held konträre Naturgewalten überwandt.
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.01.2011, 00:23   #10
gummibaum
 
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Beiträge: 10.909


Liebe Ilka,

wenn es als "klassischer Bericht" wirkt, ist es zu überarbeiten. Danke.
Gruß gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.01.2011, 00:32   #11
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.076


Das ist etwas anderes, denn Schillers Ballade ist eine Aneinanderreihung von Metaphern, die den inneren Zustand des "Helden" zum Ausdruck bringen sollen - die Angst davor, es in der vorgegebenen Zeit nicht zu schaffen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.02.2016, 16:44   #12
männlich Twiddyfix
 
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Beiträge: 2.797


Lieber Gummibaum,
Deine "Ernas" gibt es viele, denen es genauso ergeht.
Manchmal sagt man..."das Alter das ist ungerecht".
Natürlich nicht, das Alter kann ja nichts dafür, wenn es dem Einen im Alter noch gut geht, einem Anderen aber schlecht, machmal sauschlecht.

Im Leben hochintelligente Menschen bekommen Demenz.
Andere können im Alter den Stuhl oder das Wasser nicht mehr halten.
Menschen müssen in Pflegeheimen fixiert werden, werden oft gedemütigt oder/und geschlagen.

Das Leben mit dem Alter kann auch schön sein, wenn die Gesundheit stimmt, die Umgebung, eben das Umfeld.

Aber das ist leider nicht oft der Fall.

Aus meinem Umfeld:
Die alte Dame ist -erst- dreiundachtzig, sie kann kaum noch laufen, nur unter sehr großen Schmerzen, sie wohnt allein und kann sich eine Putzfrau leisten.
Die Putzfrau geht auch für sie einkaufen.
Was die alte Dame aber macht, sie geht jeden Sonntag in die Kirche (1,5 Km) und wenn sie dann nachhause kommt, ist voller Seelenfrieden und glücklich.
Sie hängt an jeden Tag ihres Lebens und wenn es ihr noch so schwer fallen würde, den Kirchgang würde sie nie auslassen.

Sie hatte sehr früh einen älteren Arzt kennengelernt, der verheiratet war,
sie lebten trotzden viele Jahre zusammen, bis zu seinem Tod.
Aber ich meine, wenn man so katholisch ist, dürfte man sich doch nicht in eine Ehe mischen, was bedeutet da noch der Glaube...???

Ich kann das nicht nachvollziehen. (ich habe da einen anderen Glauben

Na ja,,,

Gruß von mir..Twiddy...

Geändert von Twiddyfix (28.02.2016 um 19:30 Uhr)
Twiddyfix ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.02.2016, 17:55   #13
gummibaum
 
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Beiträge: 10.909


Lieber Twiddy,

manche haben keine Probleme, den Glauben wie auch den Unglauben opportunistisch zu nutzen. Ich mag keinen Stab darüber brechen, obwohl ich klare Verhältnisse und ehrlichen Umgang mit anderen Menschen schätze.

Ich danke dir sehr für deinen bereichernden Kommentar zum Altwerden. In diese Phase tauche ich auch langsam ein. Knötchen an den Fingerlenken usw.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.03.2016, 10:37   #14
weiblich Merith
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Dabei seit: 10/2013
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Beiträge: 3.380


Lieber Gummibaum,

deine "Skizze" gefällt mir sehr, sehr, ich bin nämlich auch schon ein bißchen "Erna". Vor einigen Tagen hörte ich im Radio von einem schweren Unfall zwischen dem Wohnort meines Sohnes und München, wo mein Sohn arbeitet. Die Aufräumarbeiten zogen sich lt. Radioberichten den ganzen Vormittag hin. gegen Mittag war ich fast hysterisch, da ich inzwischen felsenfest überzeugt war, dass mein Sohn in den Unfall verwickelt war.
Gut erzogen, wie wir Ernas sind, habe ich es natürlich vermieden, meinen Sohn anzurufen, um ihn nicht bei der Arbeit zu stören. Endlich abends, als ich ihn zu Hause wähnte, habe ich ihm eine Mail geschickt mit der scheinheiligen Frage , wie sein Tag war. Er antwortete prompt und endlich wusste ich, dass er unter den Lebenden weilte.

Ach was stehen wir aus

Merith
Merith ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.03.2016, 20:43   #15
gummibaum
 
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Das sind Parallelen zu Erna, Merith. Aber ich kann dich gut verstehen, da ich mich auch schon bei solchen Unfällen um meine Kinder gesorgt habe.

Alles Liebe von
gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.03.2016, 20:40   #16
weiblich Merith
R.I.P.
 
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Ort: Im Isental
Alter: 83
Beiträge: 3.380


Danke, lieber Gummibaum
Merith ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.03.2016, 12:12   #17
Thing
R.I.P.
 
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998


Zitat:
Zitat von Twiddyfix Beitrag anzeigen
Lieber Gummibaum,
Deine "Ernas" gibt es viele, denen es genauso ergeht.
Manchmal sagt man..."das Alter das ist ungerecht".
Natürlich nicht, das Alter kann ja nichts dafür, wenn es dem Einen im Alter noch gut geht, einem Anderen aber schlecht, machmal sauschlecht.

Im Leben hochintelligente Menschen bekommen Demenz.
Andere können im Alter den Stuhl oder das Wasser nicht mehr halten.
Menschen müssen in Pflegeheimen fixiert werden, werden oft gedemütigt oder/und geschlagen.

Das Leben mit dem Alter kann auch schön sein, wenn die Gesundheit stimmt, die Umgebung, eben das Umfeld.

Aber das ist leider nicht oft der Fall.

Aus meinem Umfeld:
Die alte Dame ist -erst- dreiundachtzig, sie kann kaum noch laufen, nur unter sehr großen Schmerzen, sie wohnt allein und kann sich eine Putzfrau leisten.
Die Putzfrau geht auch für sie einkaufen.
Was die alte Dame aber macht, sie geht jeden Sonntag in die Kirche (1,5 Km) und wenn sie dann nachhause kommt, ist voller Seelenfrieden und glücklich.
Sie hängt an jeden Tag ihres Lebens und wenn es ihr noch so schwer fallen würde, den Kirchgang würde sie nie auslassen.

Sie hatte sehr früh einen älteren Arzt kennengelernt, der verheiratet war,
sie lebten trotzden viele Jahre zusammen, bis zu seinem Tod.
Aber ich meine, wenn man so katholisch ist, dürfte man sich doch nicht in eine Ehe mischen, was bedeutet da noch der Glaube...???


Ich kann das nicht nachvollziehen. (ich habe da einen anderen Glauben

Na ja,,,

Gruß von mir..Twiddy...
Lieber Twiddy -

was das ist? Lediglich ein Lippenbekenntnis. Das man aufrechterhält, um den Schein zu wahren.

Lieber gummibaum,

kein Einzelschicksal.
Ich weine den Zeiten nach, in dem diese Menschen im Schoß der wirklichen Großfamilie (oft vier Generationen) aufgehoben waren.
Aber Tempora mutantur, nos et mutamur in illis,
die Erna-Schicksale häufen sich.
Meine 89jährige Mutter ist ein Kapitel für sich..

Hast Deine Betrachtungen lobenswert rübergebracht!
(War ich damals einmal mehr in einem Benimm-Seminar?)

Lieben Gruß
v.
Thing
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