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Alt 08.09.2022, 22:13   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Berthie

Berthi Burmanski konnte sich keinen Rechtsanwalt leisten. Sie bekam einen Pflichtverteidiger namens Konradi gestellt. Ein Greenhorn, frisch von der Uni. Als sie ihm im Besuchszimmer des Gefängnisses erstmals gegenübersaß, ließ sie ihn reden und blieb einsilbig.

Nachdem Konradi sich ihr vorsichtig genähert hatte, um Vertrauen aufzubauen, stellte er die Frage nach ihrem Motiv: "Warum haben Sie ihren Mann umgebracht?" Sie zuckte die Schultern, schaute an ihm vorbei, dann auf den Wachtposten, dann auf ihre verschränkten Unterarme, und dann zuckte sie nochmal die Schultern. In ihren Augen stand Zweifel. "Weiß nicht. Ist er wirklich tot?"

"Mausetot. Er kann Ihnen nichts mehr anhaben. Aber lassen Sie uns zurückgehen in die Zeit …"

Berthi schüttelte heftig den Kopf. "Nein, nein, ich will nicht zurück!"

"Ich will Sie vor einer langen Gefängnisstrafe bewahren, und deshalb brauche ich Informationen, wie und weshalb es zu der Tat kam."

Berthi sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. "Ich traue Ihnen nicht. Ihr steckt doch alle unter einer Decke."

"Gut. Reden wir trotzdem über den Abend, an dem sie das Küchenmesser nahmen …

"Ein gutes Messer. Ein Tranchiermesser."

"Sie können sich also doch erinnern?"

Berthi zog die Augenbrauen hoch. "Natürlich kann ich mich erinnern. Ich will bloß nicht erinnert werden!"

"Sie haben fünfmal auf das Opfer eingestochen …"

"Nein. Auf den Täter. Das Opfer war ich."

"… und ihm dabei zwei tödliche Wunden beigebracht, an denen er verstarb."

"Sein Pech." Und damit schwieg sie.

Auch in den nächsten Sitzungen sagte sie kein Wort mehr. Konradi begann zu verzweifeln. Wie sollte er eine Mandantin verteidigen, die nicht bereit war, mit ihm zu kooperieren? Die von der Staatsanwaltschaft des Mordes angeklagt war, was im Urteil des Richters nur lebenslängliche Haft bedeuten konnte. Und weil der Verhandlungstermin immer näher rückte, rissen Konradi die Nerven und er ging Berthi an die Kehle. "Reden Sie endlich mit mir!"

Der Wachtmann ging dazwischen und wollte die Sitzung beenden, doch Berthi wehrte ab. "Ich glaube, jetzt können wir reden." Sie setzte sich mit Konradi wieder an den Tisch und begann zu erzählen.

"Der Mann, der meine große Liebe war und den ich geheiratet hatte, begann eines Tages, mich zu verachten. Er zeigte es in Gesten, denn er sprach nicht mehr mit mir. Irgendwann blieben auch die Gesten aus, da war ich nur noch Luft für ihn. Ich wusste nicht, warum. Weil er mir nicht antwortete, redete ich auch nicht mehr mit ihm. Wir taten mechanisch nur noch das, was wir im Alltag immer taten. Und so stellte ich ihm, wie jeden Morgen, das Frühstück auf den Tisch. Als ich ihn da sitzen sah, ich seiner pharaonischen Selbstherrlichkeit, mit der er mir sein neues Zeitalter aufgedrückt hatte, überkam mich ein grenzenloser Hass. Er hatte mich aus seiner Welt ausgestoßen, und eine andere gab es für mich nicht. Ich war so gut wie tot. Also sollte er auch tot sein. Schließlich gehörten wir zusammen. Eigentlich wollte ich Brot in Scheiben schneiden, aber dann …"

Sie machte eine Pause. Konradi fragte nicht nach, sondern wartete, bis sie freiwillig fortfuhr.

"Da war etwas in mir wie ein Gewitter, das sich aufgebaut hatte und fertig war, sich zu entladen. Und plötzlich war das Brot nicht mehr wichtig. Ich nahm das Messer und rammte es Dietmar in den Arm, weil ich eifersüchtig auf die Zeitung war, die er jeden Morgen in den Händen hielt. Ritchie, der Kater, der in seinem Schoß zu sitzen pflegte, schoss davon, sonst hätte er vielleicht auch das Messer abgekriegt, so eine Furie, wie ich in diesem Moment war. Mein nächster Stoß traf Dietmar irgendwo in der Nähe des Schlüsselbeins, der nächste ging direkt in seinen Hals. Dann kam der Blackout. Von mehr ist die Rede, aber daran kann ich mich nicht erinnern."

Konradi war in seiner Haut unwohl geworden. "Sie zwangen mich, Ihnen an die Kehle zu gehen, um Ihre Situation und Ihr Motiv zu begreifen?"

Berthi nickte. "Jetzt wissen sie, wie es ist, in ein Nichtsein verstoßen zu sein. Machen Sei das Beste draus. Ich habe nicht getötet, um eine Gefangene in diesem Nichtsein zu bleiben, sondern um frei zu werden."

Konradi, jung und unerfahren, verfasste ein Plädoyer, das er noch fünfzig Jahre später seinen Studenten als das beste seiner Laufbahn präsentierte. Berthi bekam wegen Tötung im Affekt in einem minder schweren Fall achtzehn Monate auf Bewährung. Dann war sie frei.

08.09.2022
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Alt 09.09.2022, 13:03   #2
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... hast du dies aus einer Gerichtsakte konstruiert oder ist diese Geschichte in deinem Kopf entstanden? Eine wunderbar ehrliche Schilderung der grässlichen Möglichkeit eines Beziehungsendes, welche leider im Bereich des Möglichen liegt.
Nicht alles mögliche ausgewalzt, sondern auf das wichtigste beschränkt; unterhaltsam bis zum Schluss; nicht belehrend, aber lehrreich; gefällt mir

beaux rêves
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Alt 09.09.2022, 13:47   #3
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
... hast du dies aus einer Gerichtsakte konstruiert oder ist diese Geschichte in deinem Kopf entstanden?
Die Geschichte ist in meinem Kopf entstanden, es gibt aber Vorbilder aus der Praxis der Psychologie und aus dem Erfahrungsfeld von Vernehmungsspezialisten. Mit beiden Gebieten hatte ich mich befasst, als ich die Lehrgänge "Autor werden" und "Allgemeine Psychologie" gemacht hatte. Damals hatte ich, als das Kapitel "Krimi" dran war, Massen an Literatur über die Polizei- und Vernehmungsarbeit sowie Literatur von Gefängnispsychologen und Gerichtsmedizinern gelesen. Obwohl Kriminalgeschichten nicht gerade zu meinem Interessensgebiet gehören.

Danke fürs Lesen und für deine Rückmeldung.
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