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Alt 13.09.2022, 18:58   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Frühstück

Oliver gab der Wohnungstür einen mächtigen Schwung mit, so dass sie mit Kanonendonner ins Schloss fiel und die Hausbewohner aufschreckten. Türen gingen auf und Stimmen hallten durch das Treppenhaus: "Was ist los?" "Ist etwas explodiert?" "Wo war das?"

Er kümmerte sich nicht darum, sondern lief die Stufen hinunter und stolperte zur Haustür hinaus, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Auf dem Gehweg schritt er so heftig aus, dass die Aktentasche unkontrolliert in seiner Hand schlenkerte und ihm permanent gegen den Oberschenkel schlug. Ein paar Meter entfernt war am Straßenrand sein Volkswagen geparkt. Er setzte sich hinein und schlug die Autotür mit derselben Vehemenz zu, wie zuvor die Wohnungstür. Sein Adrenalinspiegel hing noch immer an der Decke.

Er ließ den Motor aufheulen und fuhr los. Jeden Morgen das gleiche Theater! Juttas Flunsch und ihre Mäkeleien gingen ihm gehörig auf den Zeiger. Seit drei Jahren lebte er mit ihr zusammen, und mit jedem Tag wuchs sein Verständnis für jene Ehemänner, die heimlich bei einer Geliebten Zuflucht suchten, um bei ihr Ruhe und Erholung zu finden.

An diesem Morgen hatte Jutta den Bogen überspannt. Beim Versuch, Oliver die Zeitung aus der Hand zu reißen, hatte sie ausgerechnet den Artikel im Sportteil erwischt, der über das Fußballspiel seines Lieblingsvereins berichtete, und ihn eines Teils des Textes beraubt. "Kannst du nicht wenigstens einmal auf die Zeitung verzichten, wenn wir gemeinsam beim Frühstück sitzen? Falls du es vergessen haben solltest: Wir sind verheiratet!"

Oliver strengte sich an, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren. "Hab's nicht vergessen. Wäre ziemlich schwierig, wenn man jeden Morgen daran erinnert wird." Er versuchte, sich dem Rest der ruinierten Sportseite zu widmen.

"Zynisch sein, das bekommst du noch hin. Aber ansonsten redest du nicht mit mir, sondern steckst deine Nase in diese verdammte Zeitung, bevor du in dein Büro abrauschst. Ich bin nur noch Luft für dich. Wozu haben wir überhaupt geheiratet?"

"Wir waren gestern aus, haben bei Mario gemütlich zu Abend gegessen und waren hinterher noch in der Gloria-Bar. Du hast mir bis nach Mitternacht die Ohren vollgequatscht, und ich habe dir zugehört. Was willst du eigentlich noch?"

"Dass du auch mal den Mund aufmachst und mit mir redest. Du bist ein ignoranter Muffel, der keinen Respekt vor seiner Frau hat! Außerdem war gestern eine Ausnahme. Meistens hockst du vor dem Fernsehgerät und guckst dir saublöde Krimis an."

Oliver schlug die Zeitung zu und erhob sich ruckartig von seinem Stuhl, wobei er mit der Hand seinen halbvollen Kaffeebecher umstieß, so dass der Inhalt über den Tisch bis auf Juttas Teller mit dem Marmeladenbrötchen schwappte. "Du hast recht, ich bin ein Muffel", bellte er, "ein Morgenmuffel, der um halbacht morgens noch nicht auf Touren ist, weil er am Abend zuvor von seiner Frau in eine Bar geschleppt wurde und nicht vor zwei Uhr früh ins Bett gekommen ist. Und jetzt kannst du mich mal …!" Er warf die Zeitung in die Kaffeepfütze auf dem Tisch, ging in den Flug, zog seinen Trenchcoat an und griff nach seiner Aktentasche.

"Komm sofort zurück!", rief ihm Jutta hinterher. "Oder glaubst du im ernst, dass ich deine Sauerei hier wegmache?"

"Rutsch mir den Buckel runter!"

Es fehlte ihm noch, wegen Juttas Zänkereien zu spät im Büro zu erscheinen. Sein Boss grillte ihn schon genug, selbst wenn er alle Arbeiten nach dessen Wünschen erledigte und sich fast jeden Tag Überstunden aufdrücken ließ. Was dachte Jutta eigentlich, woher das Geld kommen sollte, um den Kredit für das Haus abzuzahlen, das sie unbedingt haben wollte? Er trug den Löwenanteil der Last, während sie in der Stadtverwaltung in Teilzeit tätig war und am frühen Nachmittag pünktlich von der Kette gelassen wurde.

Ein gutmütiger Trottel war er gewesen, dachte er in der Rückschau. Nicht nur verliebt war er gewesen, sondern er hatte auch beweisen wollen, was für ein dickes Pfund er war. Nicht nur ein Zampano, sondern der König aller Zampanos. Er hatte sich zum Fischer gemacht und Jutta zu seiner Frau, die immer mehr wollte: König sollte er werden, dann Papst und dann Gott. Wie im Märchen der Brüder Grimm, dessen letzte Szene eine elende Hütte war.

Oliver wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil der Fahrer eines Wagens energisch auf die Hupe drückte, der in einer rechten Seitenstraße losgefahren war und noch rechtzeitig hatte bremsen können, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. "Verflucht!" Oliver hatte seine Ampel ignoriert, obwohl ihm das Rot noch in den Augen stach.

Nachdem er sich von einem Schrecken erholt hatte, bekam sein Adrenalinspiegel den nächsten Schub, als eine Straße, die zu seinem gewohnten Weg gehörte, wegen einer Baustelle verriegelt war. Er folgte den Umleitungsschildern und landete in einer schmalen Straße, in der absolutes Chaos herrschte und nichts mehr vor- und zurückging. Sowohl an den Gehwegen wie auch auf der Fahrbahn standen Autos, aus denen Kinder mit Ranzen oder Rucksäcken ausstiegen und in ihre Schule abdampften. Dann krochen die Fahrzeuge weiter, um aus dieser Enge rauszukommen.

Oliver schaute auf die Uhr. An pünktliches Erreichen seines Büros war nicht mehr zu denken. Langsam arbeitete er sich voran, oft auf Tuchfühlung mit Kalibern wie den massigen SUVs und sorgsam darauf bedacht, nicht seine Außenspiegel einzubüßen.

Als er sich endlich aus diesem Albtraum befreit und die Orientierung wiedergefunden hatte, drückte er aufs Gas. Er hatte fast eine halbe Stunde verloren, aber wenn er es in den nächsten fünf Minuten schaffte, im Büro anzukommen, wäre das zwar ein Malheur, aber noch keine Katastrophe.

Als er in die nächste Straße einbiegen wollte, kam ihm neben der Reihe geparkter Autos ein Fahrzeug entgegen, so dass er, weil die Fahrbahn zu eng war, hätte warten müssen. Dazu hatte er aber nach allem, was er durchgemacht hatte, weder Geduld noch Nerven übrig, und so nahm er den Gehweg auf seiner Seite in Beschlag und fuhr darauf weiter.

Er kam zwanzig Meter weit, bis zur Höhe einer Bäckerei, aus deren Tür eine alte Frau mit einer gebauchten Papiertüte trat. Olivers Volkswagen erfasste die Frau mit all der Wucht, die in einem Tempo von dreißig bis vierzig Stundenkilometer stecken, und schleuderte sie einige Meter weit, wo sie inmitten verstreuter Brötchen reglos liegenblieb.

Oliver drehte durch. Mittlerweile war die Straße frei, und so fuhr er vom Gehweg runter, um seinem Opfer auszuweichen, und brauste davon. Mit einem Blick in den Rückspiegel vergewisserte er sich, ob jemand den Unfall gesehen haben könnte, aber er konnte niemanden entdecken. Wäre jetzt auch nicht mehr relevant, schoss es ihm durch den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er gerade den Tatbestand der Fahrerflucht erfüllt hatte. Abgesehen von verbotenem Fahren auf dem Gehweg, unterlassener Hilfeleistung und Restalkohol vom Vorabend im Blut.

Er erreichte den Parkplatz vor seiner Arbeitsstätte, blieb aber in seinem Wagen sitzen. Sein Herz drohte ihm aus der Brust zu springen, seine Schläfen pochten, und in seinem Kopf tobten Orkane. Zudem begannen jetzt, nachdem er nicht mehr agierte, seine Hände zu zittern, als sei er extremer Kälte ausgesetzt, obwohl er in Wahrheit am ganzen Körper schwitzte.

Hilflos wie ein verlassenes Kind versuchte er, seine Gedanken zu ordnen und herauszufinden, wie es weitergehen sollte. Klar war ihm bereits, dass er in diesem Zustand nicht im Büro erscheinen konnte. Schließlich zog er sein Handy aus der Innentasche seines Trenchcoats und wählte den Notruf der Polizei.

"Der Unfall wurde schon gemeldet, die Kollegen sind bereits unterwegs", antwortete ihm der Polizist auf dem Revier. "Sind sie ein Zeuge?"

"Ich bin der Täter", antwortete Oliver. Er gab seinen Namen, das Kennzeichen seines Fahrzeugs und seinen Standort durch, drückte das Gespräch weg und ließ das Smartphone auf dem Beifahrersitzt zurück. Dann stieg er aus und machte sich auf den Weg.

Ich habe die Kontrolle verloren, dachte er, während er durch die Morgenluft ging. Schon beim Frühstück habe ich kopflos gehandelt, statt die Ruhe zu bewahren. Wegen einer bescheuerten Zeitung. Vielleicht hatte Jutta recht. Mit einem, der wie ich die Kontrolle verliert, kann etwas nicht stimmen. Warum habe ich mir nie die Mühe gemacht, über ihr Gemecker nachzudenken? Wenn ich jetzt mit ihr reden könnte … wie gut das wäre. Früher haben wir viel miteinander geredet, und es hatte uns gefallen. Wir waren fast süchtig danach. Irgendwann wurde es weniger, dann noch weniger und dann ganz wenig. Warum eigentlich?

Und wie sollten wir jetzt noch miteinander reden können? Jetzt, wo ich alles in den Sand gesetzt habe? Sie werden mich einsperren, das Haus wird über die Wupper gehen … Ich habe mich vom Straßenverkehr und von bekloppten Eltern nerven lassen, deren Kinder nicht wissen, wozu sie ihre Beine haben. Das alles hat mich aufgeregt, aber bin ich denn besser als sie? Was hatte ich mit meinem Wagen auf dem Gehweg zu suchen? Hätte ich nicht wissen müssen, dass jemand aus dem Laden kommen könnte?

Nach zwanzig Minuten erreichte er den Fluss. Er war bekannt für seine gefährlichen Unterströmungen, die von Schwimmern immer wieder unterschätzt wurden und manchen von ihnen das Leben gekostet hatten. Das bräunliche Wasser sonderte einen leicht morastigen Geruch ab. Am Ufer tummelten sich Nilgänse, Enten und Schwäne, und auf der gegenüberliegenden Seite ließen Ruderer einen Achter zu Wasser. In seiner Jugend hatte Oliver immer davon geträumt, wenigstens einmal in seinem Leben den Fluss zu durchschwimmen, aber zu viel Schiss gehabt, auf halber Strecke schlapp zu machen.

Die Sonne schien und wärmte die Luft. Oliver zog seinen Trenchcoat aus, faltete ihn zusammen und legte ihn an den Rand des Kais. Dann zog er seine Krawatte aus. Er stopfte sie zwischen die Mantelfalten und lockerte seinen Hemdkragen. Danach streifte er die Schuhe ab, setzte sich auf den Kai, ließ die Beine über dem Wasser baumeln und schaute auf die dahinschnellenden Wellen, bis ihm davon schwindelig wurde.

Zwei Radfahrer, die später an den verlassenen Kleidungsstücken vorbeikamen, alarmierten die Polizei. Die Rettungskräfte suchten den Fluss wochenlang nach Oliver ab. Nach zwei Monaten entdeckte man seine Leiche bei Reparaturarbeiten an einer Schleuse.

13.09.2022
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Alt 14.09.2022, 17:52   #2
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Hallo Ilka,

naja...der Schluss ist sehr vorhersehbar.
Außerdem finde ich immer, dass es sich ein Autor sehr einfach macht, wenn er eine Geschichte mit dem Tod des Protagonisten enden lässt (okay, ich habe das auch schon gemacht... Aber deswegen ist das nicht besser.)
Es ist viel schwieriger (und eine Herausforderung), ein anderes Ende zu schreiben.

LG DieSilbermöwe
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Alt 14.09.2022, 18:11   #3
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Es ist viel schwieriger (und eine Herausforderung), ein anderes Ende zu schreiben.
Da kann ich dir nicht widersprechen, Silbermöwe. Ich war von dem Ziel getrieben, die Geschichte nicht zu lang werden zu lassen, und dachte mir, wenn ich den Moment vor dem Suizid wie ein kleines Zeremoniell beschreibe (das sorgfältige Ablegen der Kleidungsstücke), ergäbe das immerhin ein gutes Abschlussbild. Scheint aber nicht funktioniert zu haben.

Ich hatte ein ähnlich gestörtes Rezeptionsgefühl beim "Homo Faber" (der Verfilmung), als die Contagonistin starb und deshalb nicht erfahren musste, weshalb sich ihr "Liebhaber" (der Protagonist) plötzlich von ihr zurückgezogen hatte. So blieb ihr der Schock erspart, erkennen zu müssen, dass er ihr Vater war, von dem sie nicht gewusst hatte - ebenso wie er nicht wusste, dass sie seine Tochter war.

Danke für deine Meinung. Vielleicht schreibe ich die Geschichte doch noch weiter. Mit einem anderen Ende. Allerdings wäre es für mich hilfreich gewesen, wie sie außer dem Ende bei dir angekommen ist. Wenn der "Vorspann" auch nicht funzt, kann ich mir nämlich das Weiterspinnen sparen und sollte besser von vorn anfangen. Eigentlich geht die Geschichte nämlich auf eine wahre Begebenheit zurück, die ich gerne verarbeiten wollte.
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Alt 15.09.2022, 07:44   #4
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Der Anfang und die Mitte sind völlig in Ordnung, flüssig zu lesen und man will wissen, wie es weiter geht.

Ab hier:
Zitat:
Nach zwanzig Minuten erreichte er den Fluss.
ist klar, wie es weiter geht.

An dieser Stelle würde ich anfangen, umzuschreiben.

LG DieSilbermöwe
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Alt 15.09.2022, 08:43   #5
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen

Ab hier:


ist klar, wie es weiter geht.

An dieser Stelle würde ich anfangen, umzuschreiben.

Danke, das bestätigt meinen eigenen Eindruck.
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Alt 15.09.2022, 08:46   #6
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Mir ist gerade noch etwas eingefallen. Wenn du eine wahre Geschichte verarbeiten willst, wie wäre es dann, mit dem jetzigen Ende, dem Tod des Protagonisten, zu beginnen?
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Alt 15.09.2022, 11:36   #7
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Neue Fortsetzung der Geschichte:

... Die Sonne schien und wärmte die Luft. Oliver zog seinen Trenchcoat aus, faltete ihn zusammen und legte ihn an den Rand des Kais. Dann zog er seine Krawatte aus. Er stopfte sie zwischen die Mantelfalten und lockerte seinen Hemdkragen. Danach streifte er die Schuhe ab, setzte sich auf den Kai, ließ die Beine über dem Wasser baumeln und schaute auf die dahinschnellenden Wellen, bis ihm davon schwindelig wurde. ...

So saß er eine Weile, bis er seinen Entschluss gefasst hatte. Er hatte nichts mehr zu verlieren.

Am gegenüberliegenden Ufer hatten sich die Ruderer in den Achter gesetzt und abgelegt. Oliver stand auf, zog Hemd und Hose aus und legte beides zu den anderen Kleidungsstücken. Er krönte das Bündel mit seiner Brille und sprang in die Wellen.

Er war nie ein guter Schwimmer gewesen. Mit der Froschtechnik konnte er sich leidlich über Wasser halten, den Butterfly hatte er nie beherrscht, so dass er für die Wettkämpfe seiner Schulklasse nicht in Frage gekommen war, und beim Rückenschwimmen soff er gnadenlos ab. Er war bereits der Erschöpfung nahe, bevor er ein Drittel des Flusses überquert hatte. Wie breit mochte er sein? Egal, die Strömung war es, die ihm das Vorwärtskommen erschwerte. Diese Wellen, die sich, vom Ufer aus besehen, gemächlich aneinanderzureihen und voranzutreiben schienen, hatten es in sich.

Auf halber Strecke merkte Oliver, dass er von der Strömung abgetrieben wurde und sein Schicksal nicht mehr in eigener Hand hatte. Einen Moment lang dachte er daran, aufzugeben. Einfach jede Bewegung einzustellen und sich sinken zu lassen. Neun Meter tief war der Fluss an dieser Stelle, hatte er einmal gelesen.

Doch er schwamm weiter. Dort, wo der Fluss einen Bogen machte, tauchte auf seiner Mitte ein Dampfer auf und kam in erschreckend hohem Tempo näher. Oliver schwamm um sein Leben, und als der Dampfer auf seiner Höhe war und Oliver nur noch wenige Meter bis zum Ufer hatte, verließen ihn die Kräfte.

Die Gleitwellen des Dampfers, die in die Strömung brachen und sich über den Fluss breiteten, erfassten Oliver und spülten ihn an Land. Auf dieser Seite gab es keinen Kai, nur Bewuchs, in dem sich Oliver in triefender Unterhose niederließ, die Augen schloss und lächelte: "Ich habe es geschafft!"

Jutta ließ sich von ihm scheiden. Das Haus wurde zu einem Marmeladenpreis versteigert. Oliver wurde verknackt. Es war ihm egal. Er hatte einen neuen Leitfaden für sein Leben gefunden, aber auch die Erkenntnis gewonnen, dass Gottfried Keller irrte, als er einer Novelle den Titel gab: "Jeder ist seines Glückes Schmied". Glück lässt sich nicht schmieden. Es kommt oder kommt nicht.
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Alt 16.09.2022, 18:51   #8
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Hallo Ilka,

das ist sehr viel besser! Eine Wendung, mit der ich jedenfalls nicht gerechnet hatte (dass er um sein Leben kämpft, das er vorher wegwerfen wollte).

LG DieSilbermöwe
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Alt 16.09.2022, 19:03   #9
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Danke, Silbermöwe. Da zeigt sich mal wieder, dass es für eine Geschichte mehr als nur eine Idee geben kann. Leser wie du, die ehrlich den Finger in die Wunde legen, sind immer hilfreich. Leider kommt die Geschichten-Rubrik im Forum ein bisschen kurz.

Schönes Wochenende.

VG
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Alt 17.09.2022, 14:36   #10
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Danke, dir auch ein schönes Wochenende!

Zitat:
Leider kommt die Geschichten-Rubrik im Forum ein bisschen kurz.
Hm, könnte man das nicht vielleicht ändern?

LG DieSilbermöwe
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Alt 17.09.2022, 22:11   #11
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Zitat:
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Hm, könnte man das nicht vielleicht ändern?
Ich wüsste nicht, wie. Offensichtlich herrscht die irrige Meinung vor, ein Gedicht sei seiner Kürze wegen leichter zu schreiben als Prosa.
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