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Alt 03.09.2022, 21:12   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Tanja

"Wie immer?", fragte Oscar und griff nach einem Glas.

Micha schüttelte kurz den Kopf. "Die ganze Flasche."

Oscars Bewegungen froren fast ein. Im Zeitlupentempo stellte er Micha ein Longdrink-Glas und eine Flasche Branntwein auf die Theke. "Eis?" Michas kurze Handbewegung sagte: "Nein. Pur." Er goss sich selber ein. Bis zum Rand. Um das Glas zu leeren, brauchte er nur wenige Sekunden.

Oscar runzelte die Stirn. "Willst du dich umbringen?"

"Kann dir doch egal sein, solange ich für das Gesöff bezahle und du meinen Sarg nicht finanzieren musst."

Oscar ließ ihn in Ruhe. Er war lange genug im Geschäft, um zu wissen, ab wann man problematischen Kunden keine Fragen mehr stellte. Aber eine Frau, die zwei Barhocker weit von Micha entfernt saß und einen Cocktail trank, hatte die Szene aufmerksam beobachtet. Sie rutschte von ihrem Sitz und ging auf Micha zu.

"Du siehst scheiße aus, Mann. Ich könnte wetten, dass du unter einen Traktor gekommen bist."

Micha sah nur kurz über sie hinweg. "Du siehst selber scheiße aus." Dann goss er sich die nächste Ladung ins Glas.

"Weiß ich", erwiderte die Frau. "Ich bin von der Natur verächtlich behandelt worden. Ein Experiment, das fehlgeschlagen ist. In der sozialen Gesellschaft nennt man das 'hässlich'. Zu eng stehende Augen, zu blasse Haut und ein asymmetrisches Gesicht mit zu starkem Kinn und zu schmalen Lippen. Ein dicker Hals und zu breite Schultern. Zu große Nase. Nicht gerade der Inbegriff einer begehrenswerten Eva."

"Hochinteressant. Was willst du von mir?"

"Nichts. Nur ein bisschen Unterhaltung."

Ihre Offenheit imponierte Micha. "Was willst du trinken?"

"Sag mir lieber, ob ich die nächste Flasche spendieren darf. Du siehst nämlich ziemlich abgebrannt aus."

"Hässlich bist du, das ist wahr. Aber an Spendierfreude scheint es dir nicht zu mangeln."

"Ich kann es mir leisten." Sie ließ noch eine Flasche Branntwein kommen. "Und jetzt erzähl mal, wo der Schuh drückt. Übrigens heiße ich Tanja."

Obwohl Micha introvertiert war, flößte ihm Tanja Vertrauen ein. Er drehte sich ihr zu und griff in den Ledergürtel seiner Hose. "Siehst du den hier? Bevor ich hierher kam, um mich ein letztes Mal sinnlos zu besaufen, hatte ich mir vorgenommen, mich an diesem Ding aufzuhängen. Das kann man nüchtern nicht machen, das geht nur, wenn das Gehirn sich in Nebel aufgelöst hat. Die Leute sagen immer, nur ein Feigling nähme sich das Leben. Das ist falsch. Man braucht Mut, um sich selber antun zu können, wogegen man sich bei jedem Angriff durch andere Menschen wehren würde, wo es nämlich nichts mit Mut, sondern mit Instinkt zu tun hat."

"Warum?"

"Kratze das Übliche zusammen, und du hast die Geschichte. Geld unterschlagen, Job verloren und die Raten für das Haus nicht mehr zusammengekriegt. Inge, meine Frau, ist mit den Kindern abgehauen, hat die Scheidung eingereicht und mich auf Unterhaltszahlung verklagt, die ich nicht leisten kann. Der große Zampano hat sich als Versager entpuppt. Der ganz normale Wahnsinn, von dem man glaubt, er passiere nur den anderen, aber nie einem selbst."

Als sie gut abgefüllt waren, bot Micha an, Tanja nach Hause zu begleiten. Sie zog es vor, sich von Oscar ein Taxi bestellen zu lassen. Während sie darauf wartete und nachdem sie sich den Rest Branntwein in die Kehle gekippt hatte, sagte sie zu Micha: "Zieh den Gürtel aus. Ich will ihn mitnehmen." Sie bezahlte die Getränke und schrieb ihre Telefonnummer auf den Abrechnungszettel. "Wenn du in drei Tagen immer noch der Meinung bist, dich aufhängen zu müssen, bekommst du den Gürtel zurück."

Er rief sie am Morgen des zweiten Tages an. "Mein Gürtel. Ich will ihn zurück."

"Du kämpfst also weiter?"

"Vorläufig. Wie lange, weiß ich noch nicht. Spielt das eine Rolle?"

Sie verneinte und fragte nach seiner Adresse. "Ich werfe dir den Gürtel in den Briefkasten."

Lieber hätte Micha sich mit ihr verabredet, aber er spürte ihre Reserviertheit und hielt sich zurück. Was hätte er ihr auch bieten können, mittellos wie er war?

Am dritten Tag nach ihrer Begegnung fand er im Briefkasten einen großen braunen Umschlag vor. Als er den Inhalt über seinem Küchentisch ausleerte, rutschte nicht nur sein Gürtel heraus, sondern auch ein weißer Umschlag mittlerer Größe. Er öffnete ihn und blickte ungläubig auf die grünen Banknoten. Es waren drei Bündel, jedes mit fünfzig Scheinen zu einhundert Euro.

Er rief Tanja an. "Was muss ich dafür tun?"

"Nichts", erwiderte sie.

"Du gibst mir einen Haufen Geld einfach für nichts?"

"Ich bin ein Mensch, Micha, keine Verhandlungsmasse. Ich versuche nicht, dich zu kaufen, falls du das gedacht haben solltest." Sie sagte es nüchtern, ohne eine Spur der Verletzung in der Stimme. Trotzdem hatte Micha das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen. "Wann kann ich dich wiedersehen?"

"In ein paar Monaten. Ich verreise morgen. Wann genau ich zurückkomme, ist noch offen."

"Aber …"

"Ich schicke dir eine Karte. Oder einen Brief." Ohne ein Abschiedswort beendete sie das Gespräch.

Wäre Micha ein Jahr später gefragt worden, was ihm eher neuen Lebensmut gegeben hatte, Tanjas von all seinen Erfahrungen abweichendes Verhalten, ihre faszinierende Persönlichkeit oder der unverhoffte Geldsegen, wäre es ihm schwer gefallen, sich für eine dieser Optionen zu entscheiden. Sie gehörten untrennbar zusammen. Sie hatte nichts von ihm verlangt, weder ihr zu Diensten zu sein, noch sich anzustrengen, um aus seinem Schlamassel herauszukommen, um sich ihres Geschenks dankbar zu erweisen. Sie war ein Rätsel.

Von ihrer lakonischen und gleichzeitig einfühlsamen Art beeindruckt, begann er, seine Lage neu zu überdenken. Was hatte er bisher falsch gemacht? War an allem, was schief gelaufen war in seinem Leben, er alleine schuld gewesen? Oder hatte er sich zu willfährig gemacht, um Inges Ansprüchen zu genügen? Hatte er das Geld seines Arbeitgebers unterschlagen, um vor ihr und seinen Kindern nicht wie ein armseliges Würstchen dazustehen, das dem Vergleich mit anderen Ehemännern und Vätern nicht standhalten konnte? Was hatte Inge gedacht, woher das Geld kam, von dem ihre Wünsche erfüllt wurden?

Micha las wieder Stellenanzeigen. Er bewarb sich, aber statt sein Licht unter den Scheffel zu stellen, wie er es früher tat, haute er jetzt auf die Pauke. Er sprach für Stellen vor, die ihm ein bis zwei Nummern zu groß erschienen, aber was hatte jemand, der schon ganz unten war, zu verlieren?

Ein Zeitungsverlag nahm ihn als Assistent für den Redakteur des Kulturbereichs, ein Ressort, von dem Micha keine Ahnung hatte. Aber er lernte schnell, las sich wie der Teufel durch die aktuelle und die klassische Literatur, arbeitete sich im Internet durch alle Musiksparten, von Pop bis Klassik, und informierte sich, was auf den Berliner und Wiener Bühnen gespielt wurde. Ihm eröffnete sich eine Welt, die er bis dahin nicht gekannt hatte und nach der er süchtig wurde. Sehr schnell merkte er, dass seine Mitarbeiter viel weniger Ahnung hatten als er und sich mehr mit Spaltenfüllung und Lieferterminen als mit Inhalt befassten.

Dann ereilte ihn das Glück des Tüchtigen. Sein Redakteur fiel nach einem schweren Autounfall für lange Zeit aus, und da beim Verlag das Geld knapp war, drückte man Micha die Stellvertretung auf, was eine kräftige Gehaltserhöhung mit sich brachte.

Er konnte sein Haus vor der Versteigerung, für das es ausgeschrieben werden sollte, retten, weil er die Raten an den Kreditgeber wieder zahlen konnte. Und eines Tages stand Inge vor seiner Tür, unangemeldet und völlig aufgelöst. Sie nutzte seine Verblüffung dazu, ihm um den Hals zu fallen und sich haltlos an seiner Schulter auszuweinen. Sie habe ihn vermisst, kopflos gehandelt, und die Kinder vermissten ihn auch, vor allem aber ihr trautes Heim, und überhaupt könne man doch nochmal von vorn anfangen, denn jetzt, wo er wieder Arbeit habe, sei alles anders.

Micha erkannte Inge nicht wieder. War das die schöne, stolze Frau, die ihm vorgeworfen hatte, sie mit falschen Versprechungen umgarnt zu haben, sich einem Nichtsnutz wie ihm zu billig vor die Füße geworfen zu haben, während Dutzende von Prinzen um ihre Hand angehalten hatten, bereit, sie in einer goldenen Kutsche zu ihrem Palast zu fahren? Und hatte sie ihm nicht gedroht, er werde seine Kinder nie mehr wiedersehen?

Als sie drängte, ins Haus zu kommen, löste er sacht ihre Arme von seinem Hals. "Geh zu deinem Anwalt. Er wird dafür sorgen, dass du bekommst, was dir zusteht. Und mein Anwalt wird für meine Interessen sorgen." Dann schlug er die Tür zu, und in dem Augenblick, als das Schloss einrastete, hatte er Inge vergessen.

Er dachte an Tanja. Wo sie jetzt wohl war? Dachte sie manchmal auch an ihn?

Wie sie versprochen hatte, kam eine Karte. Zusammen mit einem Brief. Aus dem Outback. Sie hatte ein Foto beigefügt, auf dem sie einen Koala auf dem Arm trug, der wie ein knopfäugiger, ledernasiger Plüschteddy mit dem verkniffenen Mund eines Marathonläufers nach dem dreißigsten Kilometer in die Kamera schaute. "Lande in drei Tagen auf Rhein-Main."

Der Brief trug kein Datum, der Poststempel war verwischt. Micha rief Tanjas Nummer auf dem Festnetz an. Keine Antwort. Ihre Mobilnummer kannte er nicht.

Er nahm sich Urlaub und wartete Tag für Tag im Terminal des Frankfurter Flughafens auf die Maschinen aus den australischen Großstädten. Manchmal schlief er vor Müdigkeit in einem Besuchersessel ein und dachte, er könnte Tanjas Ankunft verpasst haben. Aber wenn er ihre Nummer wählte, kam keine Antwort. Also wartete er weiter.

Am vierten Tag, an dem Micha jedes Gefühl für die Tageszeit verloren gegangen war und er sich nur noch von belegten Brötchen und Kaffee aus dem Flughafen-Catering ernährt hatte, kam sie durch die magische Tür, einen riesigen Koffer hinter sich her rollend, hochgewachsen und schlank, das dichte Haar müde vom Flug auf den Schultern ruhend, braungebrannt von der australischen Sonne und mit dem stolzen Gang einer Königin.

Noch nie in seinem Leben hatte Micha eine schönere Frau gesehen. "Tanja!" Sie winkte ihm erst zaghaft zu, aber dann ließ sie den Koffer los und lief ihm entgegen. Sie fielen sich in die Arme und küssten sich.

"Du hast mir gefehlt. Seit damals, als wir uns zum ersten Mal sahen."

"Du mir auch."

"Das darf nie wieder passieren."

"Es wird aber passieren."

"Daran will ich jetzt nicht denken", sagte Micha und nahm ihren Koffer. "Ich bring dich nach Hause."

Sie nahm ihm den Koffer ab. "Ich nehme ein Taxi, Micha."

"Du willst nicht, dass ich weiß, wo du wohnst."

"Richtig."

"Warum?"

"Weil ich nirgendwo wohne. Stell dir vor, ich sei eine Fee, die ab und zu Auserwählten mit dem Zauberstab auf den Kopf haut und ihnen den Weg weist. Gib Inge eine Chance. Und deinen Kindern auch. Holt euch gegenseitig vom dem Thron runter, auf dem ihr zu sitzen glaubt."

Am Taxi-Stand küssten sich Micha und Tanja leidenschaftlich. "Ich hätte gerne mit dir geschlafen", gestand Micha. Tanja lächelte. "Mit einer Fee schläft man nicht. Obwohl ich bei dir nahe dran war, mit den Gesetzen meiner Spezies zu brechen."

Sie stieg in das Taxi. "Hol dir deine Familie zurück. Mit all dem Respekt, der dir zusteht."

Micha nickte, schloss die Autotür und winkte Tanja hinterher.

Zu Hause riefe er Inge an: "Wir müssen reden."
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Alt 04.09.2022, 10:14   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
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Hallo Ilka,

schöne Geschichte mit einem gelungenen Spannungsbogen und überraschender Auflösung.
Wer denkt schon an eine Fee ...

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 04.09.2022, 12:56   #3
weiblich Ilka-Maria
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Danke für die Rückmeldung, Silbermöwe. Dein Urteil bedeutet mir viel, denn ich weiß seit Jahren, dass sich niemand so stark für die Erzähltechnik von Kurzgeschichten intresssiert wie du. Diese Sparte kommt leider im Forum ein bisschen kurz.

Schönen Sonntag.

Ilka
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Alt 04.09.2022, 14:04   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Zitat:
Dein Urteil bedeutet mir viel, denn ich weiß seit Jahren, dass sich niemand so stark für die Erzähltechnik von Kurzgeschichten intresssiert wie du
Vielen Dank!

Dir auch einen schönen Sonntag.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 08.09.2022, 16:01   #5
männlich dunkler Traum
 
Benutzerbild von dunkler Traum
 
Dabei seit: 02/2021
Ort: mit beiden Beinen in den Wolken
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Beiträge: 1.557


... ein schönes Märchen aus der Neuzeit, aber ohne "und sie lebten glücklich ...". Gefällt und liest sich super weg.

wünsche schöne Träume
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.09.2022, 17:05   #6
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Gefällt und liest sich super weg.
Merci bien, rêve obscur.
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