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Alt 04.09.2022, 07:46   #1
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Standard Das große Aufräumen

Man kann alles übertreiben. Man kann die Menschheit aus ihrer Historie verjagen, indem man Literatur mit "politisch unkorrekten" Sachverhalten oder Begriffen auf den Scheiterhaufen wirft. Schon mehrfach dagewesen.

Hier ein Beitrag zur Winnetou-Debatte, den ich für den Besten halte:
https://www.youtube.com/watch?v=O_5CnsWJZeM

Danke, dass darin nicht nur Winnetou, sondern u.a. auch Lederstrumpf, Robinson Crusoe und Buffalo Bill alias William Cody beleuchtet werden. Ich hätte noch "Sigismund Rüstig" dazugenommen.

"Vom Winde verweht" soll wegen rassistischer Inhalte aus dem öffentlichen Bewusststein verbannt werden, aber der Filmanalytiker Wolfgang Schmitt stellte fest: "12 Years a Slave" ist nicht besser.
https://www.youtube.com/watch?v=nsHtI9LI2nc
https://www.youtube.com/watch?v=qUhlcHRCuzY

Den Vogel schießen die Amazon-Filmstudios ab, die einen Code herausgegeben haben, nach dem nur noch spielen darf, was er im realen Leben ist. Hallo? Muss jemand, der einen Mörder darstellt, nachgewiesen haben, dass er schon einmal jemanden ermordert hat? Das Unwort "Authentizität" macht die Runde, aber "authentisch" kann nur ein auf seine Grundbedürfnisse reduziertes und völlig unsozialisiertes Baby sein, für das es außer ihm selbst und die Mutterbrust noch nichts auf der Welt gibt. Jede Motte ist authentisch, denn auch sie will vom ersten Augenblick ihres Daseins nichts als fressen.

Müssen wir jetzt an die gesamte Literatur und an das 120jährige Filmschaffen die brennenden Streichhölzer halten? Schon mehrfach dagewesen. Der erste bekannte Brandstifter war Cäsar, der die Bibliothek in Alexandria in Schutt und Asche legen ließ.

Was soll diese Bevormundung? Waren Michael Endes Versatzstücke, aus denen er "Die unendliche Geschichte" zusammenklebte, besser als Karl Mays Phantasien? Oder dieser Harry-Potter-Käse, in dem dieselben Böse-Gut-Figuren auftauchen, wie sie schon in den antiken Götterwelten vorkamen? Dazwischen gab es den Hype um die Seeräuber-Geschichten, mit denen Johnny Depp zum Star wurde.

Warum lässt man die Jugend nicht einfach in Ruhe und selbst entscheiden, was sie lesen möchte und wen sie sich zum Idol machen will? Wieso brauchen wir jetzt eine Zensur, die entscheidet, welche Wörter und welche Weltbilder der Jugend zumutbar sind und welche nicht?

Befragungen unter Indianern haben ergeben, dass es ihnen völlig schnuppe ist, wie sie von uns genannt werden. Die Befragung von Sinti und Roma ergab das gleiche: Sie nennen sich selbst "Zigeuner". Und kein Schwein auf dieser Welt juckt es, wenn man uns Deutsche "krauts" oder "porks" nennt. Das muss zwar nicht sein, aber wenn es vorkommt, seine "Gefühle verletzt" zu nennen, ist ziemlich starker Tobak. Es fühlt sich ja auch kein Mensch in seinen Gefühlen verletzt, wenn er von seinem Freund bei einer zufälligen Begegnung mit den Worten begrüßt wird: "Na, du altes Arschloch, wie geht's dir denn?" Das gilt nämlich als modern und cool.

Aber offensichtlich ist das noch nicht cool genug, sonst suchten sich die Leute nicht Wege, noch cooler zu werden. Sie haben ja sonst keine Probleme.
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Alt 04.09.2022, 10:33   #2
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Was „Vom Winde verweht" betrifft, das Buch ist neu übersetzt worden, hier ein interessanter Link dazu:

https://www.fr.de/kultur/literatur/m...-13371064.html

Den Film von 1936 kann man meinetwegen einmotten, er ist sowieso nicht gut, Dinge, die im Originalbuch (in der alten Übersetzung) vorkommen und etwas mit der Geschichte des Bürgerkrieges zu tun haben, werden im Film gar nicht gezeigt.

---------

Müsste man, wenn man schon so überkorrekt sein will, nicht auch das Lied „Zigeunerjunge" umbenennen?
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Alt 04.09.2022, 12:41   #3
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Den Film von 1936 kann man meinetwegen einmotten, er ist sowieso nicht gut, Dinge, die im Originalbuch (in der alten Übersetzung) vorkommen und etwas mit der Geschichte des Bürgerkrieges zu tun haben, werden im Film gar nicht gezeigt.
Vergleiche von Buch und Film kann man sich sparen. Das sind verschiedene Medien mit verschiedenen Sprachen. Wer ein Buch eins zu eins ins Bild setzten wollte, bekäme das gar nicht finanziert, der Film wäre zu langatmig, und so etwas wäre für die Zuschauer auch viel zu langweilig. Das sieht man schon daran, dass Stoffe, die in Serien für das Fernsehen verarbeitet wurden, weniger gut und erfolgreich waren als die straffer erzählten Kinoversionen.

Mich hatte am Buch "Vom Winde verweht" z.B. kein Stück interessiert, dass Scarlett aus ihrer ersten Ehe einen Sohn hatte. Was hätte ein Drehbuch mit so einer Nebenexistenz anfangen sollen?

Der Bürgerkrieg steht im Film und im Roman als Symbol für ein untergehendes System: Der aufstrebende Kapitalismus (Scarlett) gewinnt über den Feudalismus des Großgrundadels (Ashley, Melanie). Sklaven werden freigesetzt und zu Lohnarbeitern, wie das auch im Preußen durch das "Bauernlegen" der Fall war. Man muss in dem Film genau hinsehen, um das zu verstehen. Die Szene, in der Scarlett sich Strafgefangene bestellt, um in ihrem Holzhandel kostenfrei zu schuften, spricht Bände. Sie hat früh verstanden, wie Kapitalismus funktioniert.

Die Symbolik, die der Roman liefert, wurde im Drehbuch hervorragend umgesetzt. Deshalb ist der Film ein Meisterwerk und wird es bleiben. Ihn zu übertreffen wurde mehrfach versucht, auch von Selznick selbst. Niemandem ist es gelungen. Vor allem wird er falsch verstanden: Für die einen ist er eine Liebesschmonze, für die anderen steht der Bürgerkrieg im Vordergrund. Hätte Selznick einen Film über den Bürgerkrieg drehen wollen, wäre das jedoch eine Dokumentation geworden. Romane und Filme erzählen von Menschen und ihren Schicksalen vor einem gesellschaftlichen Hintergrund; sie sind keine Geschichtsstunde. Wer will, kann sich ja vor Ort informieren. Ich zwar zweimal in Atlanta und einmal in Savannah. Atlanta ist noch heute die sog. "schwärzeste" Stadt in den U.S.A., was den afro-amerikanischen Anteil an der Bevölkerung angeht. Falls man das noch so nennen darf, die erlaubten Begrifflichkeiten ändern sich ja täglich.

Und deshalb ist auch die ganze Winnetou-Diskussion lächerlich. Als Karl May seine Bücher schrieb, konnte er die Menschen damit beeindrucken, weil kaum jemand in der Lage war, ferne Reisen zu unternehmen und sich selbst ein Bild von anderen Kulturen zu machen. Wir gehen von unserem heutigen Sehen und Wissen aus, aber vor hundert Jahren wussten viele Menschen nicht einmal, wie ein Eisbär oder ein Nashorn aussieht. Die Vorführung eines solchen Tieres war eine Sensation.

Es ist eine ungeheuere Anmaßung, mit welcher Chuzpe wir heute Literatur und Verfilmungen der Vergangenheit in Grund und Boden verdammen, als seien wir von allen Irrungen und Wirrungen frei. Überall wird die Schere angesetzt, aber anstatt zu protestieren, schnippelt ein Großteil der Bevölkerung mit und nickt dazu.
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