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Alt 11.08.2022, 23:13   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Büffel und Bären

Auf Justin, meinen Sohn, war ich mächtig stolz. Mit fünf konnte er lesen, mit sechs langweilte er sich in der Schule, mit sieben las er „Lederstrumpf“ von James Fenimore Cooper und entdeckte die Romane von Karl May. Hernach trug er aus der Jugendbibliothek alles zusammen, was es über die Indianer Nordamerikas zu erfahren gab.

Zu seinem neunten Geburtstag wünschte er sich ein Tipi, wetterfest, damit wir es im Vorgarten aufbauen und stehenlassen konnten. Alle Kinder der Nachbarschaft sollten ihn darum beneiden, dass er nicht wie sie ein pastellfarbenes Plastikhaus hatte, sondern ein Tipi mit aufgemalten Büffeln und Bären.

„So etwas führen wir nicht“, sagte mir die Verkäuferin im Spielwarenladen. „Das ist nicht mehr gefragt.“ Dann wurden ihre Lippen schmal, und ein feindseliger Ausdruck trat in ihre Augen, der mich einen Schritt zurückweichen ließ. „Und außerdem möchte ich die Bezeichnung ‚Indianer‘ überhört haben.“

„So? Warum?“ Offensichtlich nahm sie mir die Naivität meiner Frage nicht ab, denn ihre Antwort stieß mir wie das Zischen einer Schlange entgegen. „Wollen Sie mich provozieren?“

Bevor ich weiter zu Wort kommen konnte, mischte sich ein junger Kollege ein. „Kann ich helfen?“ Er zog mich beiseite. „Offensichtlich sind Sie nicht auf der Höhe der Zeit. Das Handeln mit der Behausung einer indigenen Bevölkerungsgruppe in Nordamerika wäre die Aneignung fremden Kulturgutes und im Sinne politisch korrekter Entscheidungen nicht mehr vertretbar.“

„Etwas gegen eine Jurte einzuwenden? Oder gegen ein Iglu?“ Den Zynismus hätte ich mir sparen sollen, denn nun wurde der Verkäufer, der es gut mit mir gemeint hatte, unwirsch. „Besser verlassen sie jetzt unseren Laden und versuchen es woanders.“

Da ich keinen Plan hatte, wo ich noch einen gutsortierten Spielwarenladen hätte finden könnte, arbeitete ich mich durch das Internet. Aber auch hier wurde ich nicht fündig, bis ich auf die Seiten eines Requisitenverleihers stieß, der Bühnen und Filmsets ausstattete. Ich tippte die Nummer in mein Smartphone und trug mein Anliegen vor.

„Wir verkaufen nicht, wir verleihen nur.“

Ich überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass es genügen würde, ein Tipi für ein Jahr zu mieten, denn bis dahin könnte Justin andere Interessen entwickelt haben und keine Schwierigkeiten machen, wenn ich es zurückgäbe. Ich fragte nach den Kosten und rutschte, als ich den Preis hörte, fast vom Schemel. „Dafür könnte ich mir eine Luxuskarosse kaufen!“

„Dann machen Sie das“, erwiderte mein Gesprächspartner ungeduldig, weil ihm klar war, dass er es mit niemandem vom Fach zu tun hatte. „Wir sind nicht von der Wohlfahrt.“ Und weil mir die Spucke wegblieb, drückte er das Gespräch einfach weg.

Die einzige Lösung war, den Aufbau eines Tipis im Internet zu studieren, in den Baumarkt zu fahren und das erforderliche Material zu kaufen. Nach einigen Fehlversuchen schaffte ich es, ein Holzgerüst so aufzubauen, dass es standfest war, und es mit regenabweisendem Stoff zu bespannen. Doch die größte Herausforderung bestand darin, Büffel und Bären aufzumalen. Am Ende sahen die Büffel wie plattschnauzige Hunde und die Bären wie zähnefletschende Fabeltiere aus, aber das hatte ich mit reichlich Ocker, Rot und Schwarz wettgemacht, was einigermaßen dämonisch wirkte.

Justin war begeistert, als er an seinem Geburtstag das Tipi im Garten vorfand. Er fiel mir um den Hals und drückte mir fast die Luft ab, rannte ins Haus, kam mit seinem Federkopfschmuck und einem Plastikbeil heraus und begann um seine neue Behausung etwas Ähnliches wie einen Tanz zu zelebrieren, der eher dem Imponiergehabe zweier Sumo-Ringer als dem Ritual eines Indianers glich.

Schon in derselben Nacht riss uns wildes Hupen aus dem Schlaf, gefolgt von einem Stein, der durch unsere Schlafzimmerscheibe brach. „Scheiß Rassisten!“ Ich schoss aus meinem Bett und blickte auf die Straße. „Kulturschänder!“ Draußen stand eine lärmende Horde von Männern und Frauen. Einer der Männer hielt eine brennende Fackel in der Hand und warf sie in den Vorgarten. „Imperialisten-Schweine!“ Der Wurf war gezielt, das Tipi fing augenblicklich Feuer.

Ich rief die Polizei an, und als die grölende Horde den Einsatzwagen nahen sah, stob sie auseinander. Die Polizisten löschten das Feuer, nahmen ein Protokoll auf und verschwanden wieder. Routinesache.

Justin hatte von dem Spektakel nichts mitbekommen. Er schlief wie ein Murmel und träumte wahrscheinlich von den Weidegründen der Buffalos in der nordamerikanischen Prärie.

Als ich ihm am nächsten Morgen das Desaster im Vorgarten zeigte und er merkte, wie bedrückt ich darüber war, nahm er mich bei der Hand. „Das kriegen wir wieder hin, Papa. Wir kaufen die Sachen nochmal im Baumarkt und bauen ein neues Tipi.“ Dann grinste er schelmisch: „Aber dieses Mal zeichne ich die Büffel und Bären.“

11.08.2022
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Alt 12.08.2022, 16:36   #2
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
Du lenkst unsere Blicke auf ein wahrhaft weltbewegendes Problem.
Ich bin vor einer Woche einem lobenswerten Verein beigetreten, der sich nicht nur mit dem sogenannten Winnetousyndrom befasst, sondern auch uns näher liegende Verunglimpfungen bekämpfen will. So z.B. Das WHS (Wikingerhornsyndrom), ursächlich verantwortlich Richard Wagner, der den Wikingern im wahrsten Sinn des Wortes Hörner aufsetzte. Was den Indianern (verzeih diese irreführende Bezeichnung) ihr Kalumet ist, sollten Wagners Wünschen entsprechend die Hörner unserer nördlichen Nachbarns sein.
Es gibt viel zu tun.
Liebe Grüße,
Heinz

Geändert von Heinz (12.08.2022 um 20:38 Uhr)
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.08.2022, 17:33   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ein wahres Wort, Heinz. Wie ich gerade erschrocken erfahren musste, hat inzwischen ein Film-Fuzzi das Winnetou-Syndom weiter ausgeschlachtet und einen Jugendfilm darüber gedreht, wie der kleine Hosenscheißer zu einem Jüngling heranwächst und lernt, Verantwortung zu übernehmen. Titel: "Der junge Häuptling Winnetou". Was hätte richtig heißen müssen: "Der junge Häuptlingssohn Winnetou", denn der alte Chief lebt ja noch. Bleibt die Frage, wen so eine Mythos-Schändung interessieren soll. Schon der Fernseh-Winnetou-Aufguss war ein Schuss in den Ofen. Es kann halt nur einen geben.

Ach ja, die Wikinger. In einem meiner Lieblingsfilme mit Kirk Douglas "Die Wikinger" (toller Soundtrack, super Kameraführung!) haben die wilden Kerle außer ihren Haaren nichts auf dem Kopf. Und da heißt es immer, die Amis hätten von der europäischen Geschichte und Kultur keine Ahnung. Eher sollte man bei Putin anklopfen und ihm klarmachen, seine Märchen für sich zu behalten, weil wir wissen, dass der Handelsplatz Kiew von Wikingern zur Stadt hochgezogen wurde und dass sie einige Jahrhunderte lang in der heutigen Ukraine geherrscht und Kriege geführt hatten. Nicht ohne Grund hat die Ukraine die gleichen Nationalfarben wie die Schweden. Hörner ... lachhaft! Wer will schon wie ein Rindvieh aussehen? Auf die Schwerter und auf Walhall kam es an.

Mir ist aber klar, wie du den Bogen von den nordamerikanischen Buffalos zu den Wikinger-Hörnern spannen konntest. Obwohl das Thema meiner Geschichte anders und aktueller ist.

Liebe Grüße zurück,
Ilka
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