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12.06.2013, 01:15 | #1 |
Der unwillkommene Retter
Die Nacht war dunkel und Wolken verdeckten den Mond, als ich davon müde, die Zeit totzuschlagen, in die Ring-Bahn stieg. Vor mir nahm ein Mann mit Fahrrad und Kettensäge den letzten Sitzplatz ein. Im Stehen zu lesen ist mir zu unbequem; also blieb mir kaum etwas übrig, als hin und her zu schauen: hier ein Betrunkener, der den Wanzen, ohne es zu merken, die letzten Schlucke Bier aus seiner Flasche gönnte, dort eine stark geschminkte Frau mit Aldi-Tüte, die mutmaßlich den schönsten Schmuck trug, den die Wirtschaftskrise ihr gelassen hatte und mir gegenüber stand ein junger Mann mit großem Rucksack, der aufmerksam den Schienennetzplan an der Dachschräge über der Tür studierte.
Da quetschte sich mit dem Schließen der Tür hinter mir ein Jugendlicher an mir vorbei, so dass ich nicht anders konnte, als kurz zu ihm herüber zu blicken. Der Zug setzte sich in Bewegung und der junge Mann schaute mich aggressiv an und sagte mit einem Akzent, den ich grob dem Balkan zuordnete: "Du hast mich angekuckt." "Woher weißt du das nur?", fragte ich süffisant, doch er war nicht zu Scherzen aufgelegt: "Ich hau dir gleich in die Fresse." Da erkannte ich, dass es klüger sei, zu schweigen und schaute unter mich. "Ignorierst du mich, du Schwuchtel?", setzte er nach. Es gab wohl keine Möglichkeit, die Konfrontation zu meiden. Der Kerl war auf Streit aus. "Nein", beschwichtigte ich ihn und bewies es, indem ich es sagte. Das gab ihm wohl den Anlass, nach dem er gesucht hatte: "Ich geb dir - mich verarschen!" brüllte er und schlug zugleich in Richtung meines Gesichts. Doch ich konnte den Schlag abwehren und hielt seinen Arm fest. Sofort ergriff ich auch seinen anderen Arm, sodass eine annähernde Pattsituation entstand und wir uns ein wenig hin und her drückten. Plötzlich erhob sich ein stark gebauter Mann mit Glatze und schwarzer Jacke von seinem Sitz und kam auf uns zu. Er drückte meinen Widersacher mit einem kräftigen Prankenhieb zurück und fragte mit bemerkenswert klarer und von Selbstvertrauen zeugender Stimme: "Suchste Ärger, Junge? Kannste haben." Allein wohl die schiere Tatsache, dass er keine Angst zu haben schien und seine kräftige Statur bewogen den Angreifer zum Rückzug, indem er sich durch die Menschenmenge hindurch zwängte und sich vergewissernd zu uns herüber schaute. Erst jetzt erkannte ich Details in der Kleidung meines Helfers: er trug Springerstiefel, enge, hellblaue Jeans und auf seiner Bomber-Jacke war eine Wolfsangel aufgestickt. Offensichtlich war mein Retter ein Neo-Nazi. Für einen Moment dachte ich: "Ausgerechnet ein Nazi! Hätte mir nicht jemand anders helfen können?" Aber dann erkannte ich den unangebrachten Hochmut in meiner Situation, konnte ich doch wirklich froh sein, dass jemand den Mut aufbrachte, sich einzumischen. Und ist ein rechtsextremer Helfer denn ein "schlechterer" Helfer? Ich bedankte mich also mit empfundener Herzlichkeit und fügte hinzu, dass das nicht selbstverständlich gewesen sei. Während wir beide an der nächsten Station ausstiegen, erklärte er mir: "Wenn man noch an Volksgemeinschaft glaubt, dann ist das selbstverständlich." Dieser Satz löste nun ein wenig Unbehagen in mir aus, aber ich wollte auch dem Mann, der sich so mutig für mich eingesetzt hatte nicht vor den Kopf stoßen. Darum übersetzte ich "Volksgemeinschaft" wohlwollend mit "Zivilcourage" und stimmte schüchtern zu: "Ja, man kann froh sein, wenn man heutzutage noch so viel Sinn für Volksgemeinschaft finden kann." Inzwischen wurde mir bewusst, dass wir uns einen Teil des Heimweges teilen mussten; da versicherte mir der freundliche Nazi: "Wenn ein Kanacke einen Deutschen angreift, dann greift er mich an und dann hau ich zurück." Ich verkniff mir die Frage danach, was passiere, wenn ein Deutscher einen "Kanacken" angreife, aber ein Teil von mir wollte unbedingt widersprechen, wenn auch nur leise und höflich. "Ich glaube nicht, dass das jetzt etwas damit zu tun hatte, dass der Typ ein Ausländer war", relativierte ich vorsichtig. Daraufhin stellte mein Begleiter fest: "Du bist doch ein Deutscher, richtig?" Ich nickte. "Der Wichtigtuer", ergänzte er "ist ein Kanacke. Der Wichtigtuer hat dich angegriffen. Also war es ein Kanacke, der einen Deutschen angegriffen hat. Mehr muss ich gar nicht wissen." Er sprach noch eine Weile von "Überfremdung", "Fremdherrschaft der Alliierten", "linker Zensur" und von "anderen Verhältnissen", die schon bald herrschen werden. Das ganze Gespräch war mir sehr unangenehm und ich war froh, endlich darauf hinweisen zu können, dass ich in die nächste Straße einbiegen müsse. Dort wünschte ich ihm noch einen schönen Abend und er verabschiedete sich mit gestrecktem Arm und einem entschlossenen "Sieg Heil!" Ich hob meine Hand zum uneindeutigen Gruß, so dass ich ihm weiß machen könnte, ich hätte den Gruß erwidert und zugleich mir selbst weiß machen konnte, ich hätte ihn nicht erwidert und während ich die paar Schritte zu meiner Wohnung ging, beschäftigte mich die Frage: "War ich in diesem Moment ein Nazi?" |
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12.06.2013, 15:31 | #2 |
Dabei seit: 06/2012
Ort: Erstwohnsitz: Der Himmel, ein Schneeweißes Wolkenbett
Alter: 63
Beiträge: 1.722
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Hallo Schmuddelkind,
habe es gelesen und möchte nicht groß kommentieren. Denn der Faden zum (Streckspasmus) Problem ist gewalttätig im inneren der Gleichgültigkeit! Im Vertrauen das du meinen Kurzkommentar richtig einordnest Mal sehen, wer noch kommt! LG Phönix |
12.06.2013, 16:59 | #3 |
Hallo Schmuddelkind,
ein sehr interessanter Text, der eine leider wohl alltäglich gewordene Gewaltsituaition im ÖPNV vermittelt. Abgesehen davon, ob der Angreifer nun Ausländer war oder nicht, geht es letztlich um die Frage, ob ein Angegriffener die Hilfe eines Nazis in Anspruch nehemn darf, oder nicht. Was wäre denn die Alternative gewesen: Hätte der Prot den Nazi brüskieren sollen? Dann hätte er womöglich jedem der beiden eine Wange zum zuschlagen hinhalten können. Ich hätte mich ebenso verhalten wie der Prot. In dieser Situation sollte man nicht versuchen, seine politischen Ansichten zu vertreten, sondern möglichst seine akut bedrohte Haut retten. Gruß Ringelroth P.S. noch ein Nachtrag zum Stil. "Die Nacht war dunkel" kommt ein wenig platt, denn für gewöhnlich sind Nächte von Natur aus helligkeitsabwesend "Die Nacht war mondlos" wäre z.B. eine Möglichkeit. |
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12.06.2013, 17:45 | #4 |
R.I.P.
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Ich gehe mal davon aus, daß es eine reale Situation war.
Warum haben der Radfahrer und Rucksackträger - die doch in nächster Nähe waren - nicht beigestanden? Ansonsten: Hauptsache Hilfe. |
12.06.2013, 22:49 | #5 | |||||
An alle erstma ein liebes Dankeschön fürs Lesen und Sinnieren!
Zitat:
Zitat:
Zitat:
Wobei es ja auch mehr oder weniger dunkle Nächte gibt. Aber du hast schon recht - bin auch nicht ganz glücklich mit der Formulierung. Bei "mondlos" müsste ich dann die darauffolgende Beschreibung weglassen, dass Wolken den Mond verdeckt haben und die finde ich wiederum gelungen. Mal sehen. Vielleicht fällt mir noch was Besseres ein... Zitat:
Ich denke, mir ging es v.a. darum, einen Rollenkonflikt zu entwerfen. Was geht in einem Menschen vor, wenn er auf die Hilfe eines Menschen angewiesen ist, dem er unter anderen Umständen ablehnend gegenüber stünde. Und es ging auch um die Frage, inwieweit man sich für die geistige Haltung Anderer mitverantwortlich macht, indem man nicht widerspricht und (wie hier z.T.) sogar aus Verlegenheit Begriffe in den Mund nimmt (und Symbole halbwegs übernimmt), die man zwar so nicht meint, aber die Haltung des Anderen doch auch bestätigen. Zitat:
Hilfst du mir auf die Sprünge? LG |
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12.06.2013, 23:19 | #6 |
R.I.P.
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Wie wäre es mit
"Die Nacht war dunkel, denn Wolken verdeckten den Mond..."? |
12.06.2013, 23:24 | #7 |
Ich denke, das würde schon einen Unterschied machen, kann die Tautologie aber nicht beseitigen. Trotzdem danke!
Ich denke, ich muss den Satz einfach ganz anders formulieren. |
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12.06.2013, 23:32 | #8 |
R.I.P.
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Na ja, bei Vollmond ist die Nacht halt nicht wirklich dunkel...
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12.06.2013, 23:33 | #9 |
Meinte ich ja. Aber Ringelroth hat trotzdem recht: es klingt halt redundant.
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13.06.2013, 12:16 | #10 |
Hallo, Schmuddel,
ich hab deine Geschichte auch mit Interesse gelesen. Spannender als das, was da im Zug passierte (da würde sicher jeder so reagieren, aus reinem Selbstschutz), war für mich allerdings das Stück gemeinsamen Wegs der beiden und die Herausarbeitung des Gewissenskonfliktes, das Unwohlsein und wie das LI damit umgeht, das Dilemma. Das ist dir gut gelungen. lg simbaladung |
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13.06.2013, 18:16 | #11 | ||
Danke simba.
Zitat:
Zitat:
Dankeschön. War nicht so leicht, weil ich mich gefragt habe, wie viel von den Gedanken des IE direkt wiedergegeben werden sollten und wieviel man nur durch die Handlung an sich transportieren sollte. LG |
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13.06.2013, 18:38 | #12 | |
R.I.P.
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Zitat:
Soll man den Helfer brüskieren (wozu wahrscheinlich wieder viel Zivilcourage gehört), oder soll man sich so indifferent wie der Protagonist verhalten und sich sozusagen sein Teil denken? Sehr komplex! Wenn es eine klare Trennlinie gäbe, gäbe es keine Gewissensbisse, gleich welcher Art. Das Problem ist doch, daß der "Nazi" nicht beigesprungen wäre, wenn der Angreifer ein "ganz ein gewöhnlicher deutscher Assi" gewesen wäre. |
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13.06.2013, 18:43 | #13 |
Hi, nochmal,
gerade weil das LI sich so uneindeutig benimmt, also keine klare Sprache spricht, wird die Geschichte für mich gut, weil sie so zeigt, wie wichtig dies eigentlich wäre (man wünscht es sich insgeheim beim Lesen) und wie schwierig das in der konkreten Situation sein kann. Theorie und Praxis sind eben zweierlei, und Menschen sind nicht immer so stark, wie sie gern wären. Ein halber Nazi ist er sicher trotzdem nicht, seine Position hat sich ja nicht verändert. Eine Sache ist mir noch aufgefallen: Im letzten Absatz sprichts du von einem Gespräch, das dem LI unangenehm war. Das find ich nicht so glücklich formuliert, da ich mir vorstelle, dass das ein sehr einseitiges Gespräch gewesen ist. Das LI war, so stell ich mir das vor, wohl eher ein fast stummer Zuhörer, oder? gruß, simba |
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13.06.2013, 18:51 | #14 | |
@Thing: Ja, die Thematik ist sehr komplex. Das hat mich auch dazu bewogen, diese Geschichte zu schreiben, weil ich die Trennlinie selbst nicht so klar ziehen kann. Ist auch ein vertretbarer Standpunkt, den Helfer nicht hinterher zu belehren, sondern ihn erstma nur als Helfer stehen zu lassen und zum Rest zu schweigen.
Das Problem ist aber wiederum, dass in der Situation ein völliges Schweigen nicht möglich war. Irgendwas musste er dem Neo-Nazi ja sagen und dann kommt man schnell in Versuchung, Anschauungen zu bejahenm, die man eigentlich verneinen müsste. Zitat:
Einerseits hätte er sich damit konform mit der großen Mehrheit der Menschen verhalten. Kaum jemand würde es überhaupt in Erwägung ziehen, zu helfen (und in der Geschichte gab es ja genügend Leute, die nicht geholfen haben). Andererseits wäre seine Motivation eine andere. Er würde die Hilfe nicht aus Trägheit unterlassen (denn in der beschriebenen Geschichte war er ja mutig und aktiv), sondern weil er den Fall anders betrachten würde, als wenn ein Deutscher angegriffen wird. Vielleicht würde er den Angriff auf einen Ausländer ja sogar als einen Akt der "Verteidigung des deutschen Volkstums gegen die Überfremdung" werten und sich ganz bewusst zurückhalten. |
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13.06.2013, 18:57 | #15 | ||
Zitat:
Zitat:
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14.06.2013, 21:57 | #16 |
Dabei seit: 06/2012
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Beiträge: 1.722
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Hallo Schmuddelkind,
Zitat: "Ich glaube, das habe ich leider nicht. Steh aufm Schlauch." Hilfst du mir auf die Sprünge? Ich werde es verführen! Dein Smiley spricht für dich und Danke dafür! Deine fiktive Geschichte ist für mich nicht anderes als eine Adaption des Geistes einem selbst und gehörtem evtl. auch Bild gestützt. Durchaus auch nachvollziehbar wenn real erlebt. Dies hast du verneint, wenn ich richtig gelesen habe. Nicht des so trotz ist es ein Paradox, da zum einem die eigene Weltanschauung "innerlicher Bestand" und zum anderem "des anderen" ins wanken gerät! Ein verwirrt ist einem aus meinem Verständnis, gleich, einem aus dem Gleichgewicht! Es birgt ein Geheimnis! Die Chance sich neu zu Justieren ein sich selbst auch richten, zu einem stabilerem inneren selbst als zuvor! Das Wort (Streckspasmus) habe ich nicht ohne Grund in klammern gesetzt! Die sogenannte Menschheit folgt aus ihrer Kulturgeschichtlichen Historie als Art immer solchen, die in ihrer Gruppe - "Versprechen" im wahrsten Sinne des Wortes! Ich aber Verspreche nicht, ich Spreche, dass was ist, AUS! Nun hast du noch mehr zum Denken und ich wünsche mir für dich das es dir gelingt deine Erkenntnis zu erweitern! Lieben Gruß Phönix |
20.10.2013, 17:02 | #17 | |
Du meinst, dass es einem Zweifelnden, Verwirrten eine willkommene Ausrede sein kann, diesen "Streckspasmus" auszuleben?
Vielleicht ist das so. Aber dann lese ich: Zitat:
LG |
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06.11.2013, 19:52 | #18 |
ich muss wirklich sagen, das thema der geschichte ist unheimlich interessant. wie würde man selbst in so einer situation als umherstehender reagieren?
super gefällt mir auch der letzte teil, in dem der protagonist die nazi-aussagen des unwillkommenen retters in die, für den protagonisten, richtige moral umwandelt. vg |
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07.11.2013, 13:34 | #19 |
Vielen Dank
Es ist eben wirklich keine eindeutige Situation und verweist auf die Grauzonen unserer Persönlichkeit, wo wir nicht genau wissen, was zu uns gehört. In diesem Sinne sind, denke ich, auch die angesprochenen Übersetzungsvorgänge (von einem Ethiksystem in ein anderes) zu verstehen, bis es dann aber irgendwann unklar wird, ob man nur übersetzt oder diese Übersetzungen auch selbst anreichert. LG |
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Stichworte |
rechtsextremismus, rollenkonflikt, zivilcourage |
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