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08.08.2013, 08:07 | #1 |
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Brief von der MS Seehausen
Ich erzähl Dir von dem kleinen See, der im Westen liegt, hinter den Hügeln des Vorgebirges. Von seinem moorigen Wasser, das so weich ist, sogar im Winter, wenn unter dem Eis das Licht alles stählern macht.
Den kleinen See hab ich immer lieb gehabt. Schon als Kind. Ich hatte das Gefühl, mitten in ihm zu sein, wenn ich in meinem kleinen Boot saß. Ich hatte nie das Gefühl, auf ihm zu treiben. Ich war immer in ihm drinnen, als hätte er Arme, die mich umfassten. Wenn ich fort vom ihm war, und traurig, dann brauchte ich nur an ihn zu denken und an seine Kraft, mit der er mich hielt, und ich fühlte mich nicht mehr allein. Du hast gelacht und gesagt, dass nur ein Walfisch so reden könnte. Oder ein Wassermann, aber dass ich helles Haar hätte und blaue Augen, und dass Indianer scharf wären auf blonde Skalps, nicht auf das nasse Fell einer Robbe. Du hast deine dunkle Mähne geschüttelt und hast gesagt, dass du mich liebst, weil ich so anders wäre und dass du nicht wissen willst, was morgen sein wird oder irgendwann. Dann warst du fort. Ich liege auf der sandigen Halbinsel, die in den kleinen See hinausragt, und stell mir vor, wie die Seerose in deiner dunklen Mähne wohl ausgesehen hätte. Seerosen sind stumm und sie duften nicht. Nachts schließen sie die Augen, wie ihre Schwestern an Land. Ich hab sie in einer Schale auf dem Marmortischchen in meinem Schlafzimmer. Ich komme spät heim, diese Nacht, und lege mich hin und wünsch mir, ich könnte dich spüren und Dir sagen, dass in den dicken Knospen der Seerosen Träume verborgen sind, die in Erfüllung gehen, wenn man stark ist und an sich glaubt. Weiß, lila und zitronengelb, ein Dreiklang über Dunkelbraun oder Schwarz. Die Walfische können ihn hören. |