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22.02.2019, 12:32 | #1 |
Heute ist ein guter Tag
Heute ist ein guter Tag, denn Rosa hat heute keinen Dienst. Rosa hält sich was darauf zugute, dass sie die Station stets im Griff hat. Außerdem kann sie jeden Patienten allein ins Bett oder hinaus befördern. Ihren letzten Griff habe ich noch tagelang gespürt, und Minuten hat es gedauert, bis die Schmerzen verebbt sind und ich wieder durch mein Augenwasser blinzeln konnte.
Olga hat heute Dienst. Sie bleibt bei jedem ein wenig stehen. Ihr Repertoire an ermunternden Worten scheint im Laufe der Jahre seine Erneuerungsfähigkeit verloren zu haben. Aber sie schaut Dich so an, dass du spürst, sie meint wirklich dich und nicht ihr Überich. Heute ist ein guter Tag. Kein Feiertag, an dem die Verwandten einfallen wie die Fliegen, das Stationspersonal aufscheuchen, an allem herumnörgeln, um ihr schlechtes Gewissen abzureagieren, oder alles demonstrativ schön finden. Sie sind auch meist chronisch gekränkt, wenn ihre Liebesbeweise nicht genügend gewürdigt werden. Ihre Liebesbeweise stehen nach wenigen Tagen mit hängenden Köpfen auf den Fluren in den dekorativen Nischen. Kaum jemand hat Zeit sie regelmäßig zu gießen. Papa Jakob von nebenan wäre besser gedient mit ein paar zusätzlichen Windelhosen, aber darüber spricht er nicht mit seinen Besuchern. Bei mir fällt schon lange niemand mehr ein. Frühere Freunde haben darauf verzichtet, ihrer unausweichlichen Zukunft allzu tief in die Augen zu sehen. Christus kommt auch nur einmal im Monat oder auf dringende Anforderung. Selbst er ist schließlich darauf angewiesen, dass ihn jemand in die Pflegestation bringt. Aber heute ist ein guter Tag! Vor allem, weil ich das große Los gezogen hab im Glücksspiel um den richtigen Moment. Früher glaubte ich, es ist eine erlernbare Kunst, zum rechten Moment wohl präpariert am richtigen Ort zu sein. Heute weiß ich, dass du über die entscheidenden Dinge keine Kontrolle hast, wenn es darauf ankommt. Zum Beispiel die Kontrolle über deinen Stuhlgang. Hier gehörst Du zu den Kings, wenn Du regelmäßig wie ein Uhrwerk, einplanbar für den Pflegedienst, die große Entleerung haben kannst. Bei mir kommt der Stuhlgang, wann er will, und dann liege ich in der Scheiße. Ausgesprochenes Pech habe ich, wenn es zur falschen Zeit passiert. Wenn alle auf der Station die Hände voll zu tun haben – z.B. mit Essen eingeben. Dann kann es mehrere Stunden dauern. Früher habe ich mir solche Situationen gar nicht vorstellen können, und wenn, dann dachte ich, das größte Problem sei die Scham, wenn man um Hilfe bitten muss. Quatsch! Auch der Ekel ist es nicht. Das Brennen in den empfindlichen Bereichen und die Angst, ob die alte Stelle wieder aufgehen wird. Die Feigheit, die dich daran hindert nach einer Stunde ein zweites Mal zu läuten und für die du dich verachtest. Aber heute ist ein guter Tag. Es passierte kurz vor dem Ende der Nacht. Wenn ich jetzt läute, dann kommt der Nachtdienst – beinahe sofort. |
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22.02.2019, 18:13 | #2 |
abgemeldet
Dabei seit: 04/2018
Ort: Zwischen den Gedanken
Alter: 57
Beiträge: 697
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Liebe AlteLyrikerin,
dein hervorragender Text bewegt sehr viel in mir und es ist nicht das letzte mal, dass ich ihn lesen werde. Bisher bin ich mir noch nicht einig, ob ich ein längeren Kommentar dazu schreiben soll oder es dabei belasse. Feedback geben wollte ich auf jeden Fall. LG, S. |
22.02.2019, 18:25 | #3 |
Liebe Serpentina,
herzlichen Dank für Deinen Besuch und das nette Feedback. Herzliche Grüße, AlteLyrikerin. |
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22.02.2019, 18:32 | #4 |
abgemeldet
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Angst und Erfahrung sprechen-
kann man da sagen "gern gelesen", hört sich an wie abwaschbar- starker Text Gruß Moment |
22.02.2019, 18:43 | #5 |
Forumsleitung
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Was lese ich denn da und reibe mir verwundert die Augen? Du präsentierst tatsächlich das Handwerkszeug einer begabten Schreiberin. Du zeigst ungeschönt, wie es in einem Pflegeheim zugeht, erklärst nichts, interpretierst als Autorin nichts und gängelst den Leser nicht, sondern malst ein Alltagsbild, in das der Leser hineingezogen wird wie ein Gast, der sich umschaut und seine eigenen Schlussfolgerungen zieht. Der Leser sieht die Geschehnisse durch die Augen des prosaischen Ichs und fühlt mit ihm. Das zeichnet einen befähigten Autor aus.
Auch stilistisch ist der Text schon sehr gut. Schleifen könnte man noch daran, aber als Entwurf ist er bereits hervorragend gelungen. LG Ilka |
22.02.2019, 21:59 | #6 |
Dabei seit: 10/2016
Ort: in einem sagenhaften Haus
Alter: 42
Beiträge: 5.271
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Eindringlich und echt, unverschönt und wahr.
Deine Darstellung besticht durch Wortgewandtheit... ...und ist nun auch in meiner Favoritenliste zu finden. Nur Lob, von Unar. |
23.02.2019, 02:07 | #7 |
abgemeldet
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hallo ihr lieben -
dieser text zeigt, dass der gewählte suizid besser ist als täglich in der eigenen scheiße zu schmoren. AL zeigt hier mit banalen nüchternen worten etwas auf was in ihrem portefolio vorrang hat. und das in nüchterner und distanzierter fast tiefen-montoner quälung. die schwester meines stiefvaters liegt in einem solchen pflegeheim in mödling. ich möchte darüber nichts erzählen was Putzi immer wieder nach den besuchen berichtet. AL du solltest einen roman in dem stil von dieser frau schreiben die da vor etwa 10 jahren über alles unappetittliche im spital und danach einen erfolgsroman veröffentlichte. kann mich an den titel nicht mehr erinnern. ich würde dir MEINE LETZTEN EXKREMENTE empfehlen. mit viel scheiße und der not die aus dieser abhängigkiet resultiert. könnte ein erfolg werden. vlg r |
23.02.2019, 12:52 | #8 |
Vielen Dank an alle Leser
Es freut mich, dass doch so viele Rückmeldungen zu meinem Versuch gekommen sind, die Pflegeproblematik einmal "prosaisch" darzustellen. Ich schreibe ja extrem wenig Prosatexte und bin überrascht von der Wirkung dieses kleinen Textes.
@Ilka-Maria: herzlichen Dank für Deine ausführliche Textwürdigung. Wenn es nicht zu viel Arbeit macht, würde ich brennend gern erfahren, an welchen Stellen Du noch feilen würdest. @Ralfchen: Selbstverständlich respektiere ich die persönliche Entscheidung eines jeden Menschen (was beim Thema Suizid besonders schwer fällt). Doch die Intention meiner Texte geht eher dahin an der Verbesserung der Situation mitzuwirken, damit - im Idealfall - der Suizid aus Angst vor der Pflegesituation überflüssig wird. Herzlichen Dank an Moment und Unar für die anerkennenden Worte. Herzliche Grüße, AlteLyrikerin. |
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24.02.2019, 01:00 | #9 | |
abgemeldet
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Zitat:
da hast du aber ein projekt vor dir, dessen erfolg so ziemlich unter null steht. hier texte zu schreiben, die dann 50 menschen gelesen werden bringt doch nichts. wenn dann musst du aus deiner einöde in die stadt in die politik und etwas erledigen oder einen weg dafür ebnen. das wird dir kaum gelingen, wie ich dich und das problem einschätze. du müsstest einen roman schreiben der die menschen tatsächlich aus den angeln und aus ihr stoizität hebt. wenn dir das gelingt könnte etwas funktionieren. nur auch da hege ich große zweifel. vlg rchen |
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24.02.2019, 11:05 | #10 |
Liebe AlteLyrikerin,
jetzt hatte ich auch mal Zeit zum Lesen. Für mich kann Rosa auch Prosa! Auch wenn ein einzelner Text sichtbar nichts bewegt, der stete Tropfen höhlt den Stein. Und mit etwas Glück ist es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Weiter so! Liebe Grüße Gylon |
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24.02.2019, 11:55 | #11 |
Lieber Ralfchen,
poetry ist doch nur ein kleiner Club, in dem wir unsere Liebe zur Sprache an vielfältigen Beispielen diskutieren. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten im Alltag Multiplikatoren zu aktivieren, z.B. durch Aktivitäten in der Hospizbewegung. Lieber lasse ich mich lebenslang als Spinnnerin titulieren und betrachte das als Adelstitel, als dass ich meine Ideale aufgeben würde. Lieber Gylon, Danke für Deinen Besuch und Deinen aufmunternden Kommentar. Herzliche Grüße, AlteLyrikerin |
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24.02.2019, 18:07 | #12 | |
abgemeldet
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Zitat:
das liebe AL - wirst du von mir sicher nicht erleben. ich war seit frühester jugend ein mensch der dinge unternahm und aktionen setzte. ich hab mich nicht von den dingen treiben lassen, sondern machte sie mir zu untertan. das ist in der politik schwer. einer meiner engsten freunde war bundesrat im parlament ein anderer ebenso enger freund war der image-designer der ÖVP. beide hatten mich immer wieder aufgefordert parteimitglied zu werden und politisc h mitzuarbeiten. ich pfiff darauf, denn die öffentlichkeit und diese labyrinthe hatten für mich keinen reiz. aber dir steht nichts im wege aktiv zu werden. ich wünsche dir nur das beste. meine lebenserfahrung zeigte nur leider, dass viele dinge die sinnvoll wären einfach gebremst werden, weil es soviel egomanen gibt die ihre pfründen und jagdgründe haben und niemanden reinlassen. vlg r |
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27.02.2019, 17:06 | #13 |
Dabei seit: 12/2009
Ort: In den Auen des Niederrheins
Beiträge: 2.662
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Hallo AlteLyrikerin,
zufällig, weil ich selbst gerade ein Prosastück einstellen will, stoße ich auf deine kleine Geschichte. Du hast einen eindringlichen Text erstellt, nüchtern und kein bisschen moralisierend oder anprangernd. Er macht nachdenklich und auch irgendwie betroffen, er sollte auf allen Pflegestationen gut sichtbar ausgehängt werden. Ich gratuliere dir. Liebe Grüße Nöck |
27.02.2019, 17:49 | #14 |
Herzlichen Dank, lieber Nöck, für Deinen positiven Kommentar.
Liebe Grüße, AlteLyrikerin |
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