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#1 |
Forumsleitung
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Was ist das für eine seltsame Erschlaffung, die sich mir seit Wochen in den Weg stellt? Sie durchkreuzt meine Pläne, von denen ich am Vorabend überzeugt gewesen war, sie bestimmt am nächsten Morgen mit Schwung anzugehen. Doch jedes Mal nach dem Erwachen bremst mich eine bleierne Lähmung aus und macht meine Vorsätze zunichte, noch ehe ich aus dem Bett und auf den Beinen bin. Die Vorfreude auf den nächsten Tag, an dem bestimmt alles wieder wie früher sein wird, als ich energiegeladen dem Alltag die Stirn bot und sicher sein konnte, die Vorherrschaft über die Gegenwart und die überschaubare Zukunft zu haben, wich einer Gleichgültigkeit gegenüber allem, was mir einmal wichtig gewesen ist.
Macht sich so etwa eine Depression bemerkbar? Bin ich gar des Lebens müde? Oder bin ich einfach nur satt von einem Alltag, in dem sich seit Jahrzehnten nicht nur die Rituale wiederholen, sondern auch die Freizeitgestaltung, die Gespräche mit dem Lebenspartner, den Verwandten, den Freunden und Bekannten? Nein, eine Depression kann es nicht sein, das gibt mein Gemütszustand nicht her. Noch nehme ich an meiner Umwelt Anteil, bin aufmerksam gegenüber meinen Mitmenschen und erledige meine Pflichten. Die Maschinerie des sozialen Zusammenlebens muss funktionieren. Aber es bereitet mir keine Freude mehr, nicht einmal ein bisschen Zufriedenheit. „Satt vom Alltag“ kommt der Sache wohl näher. Um diesen Verdacht muss ich meine Kreise ziehen und versuchen, sie einzuengen, zu greifen und erklärbar zu machen. Warum stelle ich die Rituale meines Lebensstils, die mir Sicherheit und Geborgenheit gegeben haben, plötzlich in Frage? Warum fühle ich mich nicht mehr in ihnen wohl, so dass mein Körper und mein Geist ihnen den Gehorsam verweigern? Wenn Körper und Geist ins Exil gegangen sind und mir die Antworten verweigern, bleibt nur das Herz. Selbst das leidendste Herz spricht noch eine klare Sprache, aber man darf sich ihm nicht verschließen, sondern muss es bis zum Ende anhören. „Es stimmt, dass Routine den Alltag und den Umgang mit den Menschen sicherer macht als ein Wechselspiel der Launen. Situationen sind leichter einzuschätzen und machen somit weniger Mühe, Konflikte zu lösen. Routine festigt das Know-how im Beruf, die Lebenserfahrung und das Festhalten an Entscheidungen.“ Ich nicke zustimmend. „Aber“, fährt mein Herz fort, „man darf darüber die Neugier nicht vergessen. Sie ist kein Privileg der Kinder und Jugendlichen, sondern verlangt, ein Leben lang befriedigt zu werden. Dem Geist ist sie Nahrung, er will an ihr wachsen. Fehlt die Nahrung, geht er zugrunde.“ Da beginne ich zu verstehen, woran ich kranke. „Woher weißt du das alles, mein Herz?“ „Eine wunderbar neugierige Frage, auf die es eine einfache Antwort gibt: Meine Heimat ist in der Mitte zwischen Kopf und Bauch, der perfekte Ort, um zwischen Verstand und Gefühl zu vermitteln. Oder anders ausgedrückt, zwischen geistigen und körperlichen Bedürfnissen. Ich bin das ausgleichende Moment, und nur in unserem Dreiklang bilden wir eine Harmonie.“ „Wie genau geht das vor sich?“ „Schau: Im Geist sitzt der Verstand, die Kontrollinstanz, der dir Gesetze und moralische Werte vorschreibt und dich bei Zuwiderhandlung maßregelt, sozusagen der Gerichtshof des Gewissens. Im Bauch lebt der Säugling, der keine Gesetze und Werte kennt, sondern allein dem Trieb nach Sättigung, Wärme und Geborgenheit folgt. Beide Zustände sind Extreme, denen eins fehlt, um sie zusammenzubringen: die Liebe. Und dafür bin ich zuständig.“ „Also fehlen mir Neugier und Liebe?“ „Nein. Sie waren immer da. Du hast sie nur aus dem Blick verloren.“ „Ich glaube, jetzt weiß ich, was du meinst“, erwidere ich, aber mein Herz antwortet nicht mehr, sondern schlägt sanft vor sich hin. Ich werde neugierig, hole mein Blutdruckmessgerät hervor, lege die Manschette an und drücke auf den Auslöser. Und siehe da: Die Werte, die immer zu hoch waren, sind deutlich niedriger. Ich rufe meine Tochter an. „Du musst ab jetzt am Sonntag selber für deine Familie kochen. Dein Vater und ich werden auswärts essen gehen.“ „Aber wir waren immer sonntags zusammen. Familienleben war dir doch wichtig.“ „Ist es immer noch. Aber nicht mehr so. Lass dir selber etwas einfallen.“ Dann sage ich telefonisch die Buchung unserer alljährlichen Urlaubsreise in den Bayerischen Wald ab. „Tut mir leid, Herr Dobmeier, aber in eurem Dorf kenne ich seit Jahren jede Katze, jeden Hund und jeden Dachziegel. Streichen sie unseren Namen aus Ihrer Kartei.“ Als nächstes recherchiere ich im Internet und buche eine Reise nach New York, Flug mit der Lufthansa und Residenz im Waldorf Astoria, Park Avenue. Mit Rabatt für Frühbucher. Den Abendtisch decke ich romantisch, mit Weißweingläsern, einem kräftigen Chardonnay und zwei schlanken Kerzen. Meinem Herzblatt muss ich die Reise nach New York schmackhaft machen, denn er hasst die Amerikaner. Nicht mein Problem. Frisst er’s nicht, bleibt er eben zu Hause. Aber ich bin weg, neugierig bis in die Haarwurzeln. 04.04.2025 |
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#2 |
Liebe Ilka,
diese Geschichte finde ich super toll. Danke. Servus Roland |
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#3 |
Forumsleitung
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Freut mich, Roland, wenn du aus der Story etwas mitnehmen konntest.
Besten Gruß Ilka |
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