|
|
Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw. |
|
Themen-Optionen | Thema durchsuchen |
27.02.2012, 19:47 | #1 |
abgemeldet
|
Brief eines Auswanderers
Ich möchte einmal einen etwas längeren Text von mir posten.
Es geht um einen Auswanderer, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts dazu entschließt nach Amerika zu gehen. Ich weiß, dass die Diktion sprachhistorisch nicht ganz passend ist. Vermutlich wäre ein derartiges Selbstzeugnis auch etwas unreflektierter, aber das ist ja keine historische Quelle, sondern Fiktion und eine Schreibübung für mich. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn ich ein paar Tipps und Hinweise von euch bekäme. Brief eines Auswanderers Mit welcher Anrede beginnt man einen an sich selbst adressierten Brief? Sollte man sich überhaupt selbst ansprechen? Genau genommen ist das gar kein Brief, sondern vielmehr eine Notiz. Schnell verfasst und doch wohl überlegt. Eine durchdachte Flüchtigkeit meiner Gedanken. Früher hatte ich Schritt für Schritt im Voraus geplant, nur um festzustellen, dass die Zukunft sich nicht an eigene Pläne hält, sondern nur ihrem eigenen Plan folgt. Mein Kopf ist voller Erwartungen und mein Herz erfüllt mit Hoffnung. Ich habe alles verloren, meinen Verlust beweint und bin nun bereit zu gewinnen. Ich bin besitzlos und doch nicht arm. Bin geschwächt, aber nicht gebrochen. Mein Glaube ist durch nichts zu erschüttern, obgleich meine bisherige Welt und mein bisheriges Leben zum Einsturz gebracht wurden. So erhebe ich mich nach diesem Sturz und blicke erhobenen Hauptes in eine hoffnungsvolle Zukunft. In wenigen Tagen werde ich mein kleines Dorf in der Eifel verlassen, um nach Amerika auszuwandern. Mein Vorhaben ist von unsagbar großer Bedeutung für mich und die restlichen Schritte erscheinen mir nun nur noch winzig. Ich werde hinausziehen, etwas von der Welt sehen und in die Neue Welt einziehen. Meine bisherige Welt war unser kleines Dorf. Hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich mit meiner Familie gelebt und hier habe ich sie verloren. Überhaupt habe ich alles verloren. Aber ich weiß, wenngleich mir jeglicher Besitz genommen und alle persönlichen Bindungen entrissen wurden, bleibt mir noch immer mein Innerstes. Es ist mein unbändiger Wille, der mir Kraft gibt. Diese Kraft ist es, die mich ins Gleichgewicht bringt, wenn ich zu stolpern drohe und mir Haltung verleiht, wenn ich innerlich bereits wanke. Ich bin vertieft in Arbeit, auch wenn ich ohne Beschäftigung bin. So beschäftigt mich all das, was mit den Vorbereitungen meiner Abreise einhergeht. Ich lasse nichts zurück und reise doch ohne Gepäck. Was ich am Körper trage, ist mir geblieben. Ich belaste mich nicht mit schwerem Gepäck, sondern trage einzig die Verantwortung für mich selbst. Von ehemaligen Nachbarn habe ich erfahren, dass man vor der Einreise in die Neue Welt medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen muss. Gewiss sah ich früher vitaler aus und die beschwerliche Reise wird meinen Körper zusätzlich schwächen. Sobald ich jedoch vor den Doktoren stehe, werden keine Spuren äußerlicher Ermattung sichtbar sein. Wenn sich meine Schultern vor Müdigkeit neigen wollen, wird sich mein Kreuz kraftvoll aufbäumen. Natürlich begleiten mich auch Ängste auf dem Weg in ein neues Leben. Die Entscheidung fiel mir nicht schwer, denn ich konnte nicht zwischen Kopf und Bauch entscheiden. Um eine Entscheidung zu treffen, stellt man sich selbst vor eine Wahl. Ich hatte keine Wahl. Das Schicksal entschied für mich und stellte mich vor keine Kreuzung, sondern mitten auf einen neuen Pfad. Ich gehe nicht, ich lerne Laufen. Stehe auf eigenen Beinen und werde bereits mit den ersten Schritten neue Spuren hinterlassen. Für mein neues Leben bin ich nicht nur bereit unentwegt hart zu arbeiten, sondern täglich über meine eigenen Grenzen hinauszugehen. Ich blicke nur nach vorne, denn jeder Tag, den ich erleben darf, ist Zukunft. Meine Zukunft. Und auch aus diesem Grund schreibe ich diesen Brief. Sollten mich später einmal Zweifel plagen, werde ich ihn hervorholen, um sie zu beseitigen. Diese Zeilen werden mich bestärken und erneut stark sein lassen. Sicherlich habe ich dann auch nach ein paar Wochen, Monaten oder gar Jahren die passende Überschrift dafür, und für das neue Kapitel in meinem Leben, gefunden. Ich möchte nicht fortgehen - ich will und muss es. Die Ruinen in mir werde ich neu aufbauen, um wieder gerne in mir zu wohnen. Ich strebe nach Glück und hoffe auf ein kleines bisschen Glückseligkeit. Ich gehe, weil ich darauf hoffe, anzukommen - in einem neuen Land, einer neuen Heimat und endlich auch in mir. |
14.05.2012, 18:10 | #2 | ||
Das ist ganz stark!
Vor der Lektüre hielt ich das Thema für trivial (vielleicht liegt das aber auch an meinem Mangel an Fantasie), aber was du daraus gemacht hast, hat mich sehr berührt, weil ich fast durchweg am Empfinden des Auswanderers teilhaben durfte. Ich habe das alles sehr gut mitempfunden und dennoch lässt der Text Raum für Reflexionen: Besitz, Abhängigkeit und Selbstgenügsamkeit; das Verhältnis von Hoffnung, innerem Willen und Lebenssituation; das sind alles andere als triviale Themenkomplexe, die du beiläufig einführst und dadurch zum Nachdenken anregst. Besonders haben mir die vielen paradoxen Formulierungen gefallen; hier wird die Ambivalenz der Situation deutlich. Und dennoch scheint der Erzähler fest entschlossen: Zitat:
Die anfängliche, etwas skurrile, aber dem Text Würze verleihende Frage an sich selbst, warum der Erzähler das überhaupt schreibt, zeugt von einem inneren, unergründlichen Bestreben, eine neue Zukunft zu gestalten, was ihm wohl während der Niederschrift bewusst wird und so beantwortet er die Frage zum Schluss selbst: Zitat:
Du hast ja schon selbst angesprochen, dass die Diktion nicht ganz passend ist, aber das stört angesichts der Schönheit deiner Sprache kaum. Nur an einem Wort bin ich hängen geblieben: "vital". Ich weiß, das Wort gab es schon damals, führte es doch auch Kant oft im Munde, aber es erinnert doch stark an moderne Interpretationen von Körperlichkeit im Sinne des Fitness- und Ernährungsbooms. Na ja, vielleicht ist das auch Geschmackssache. Der Text jedenfalls ist toll! LG |
|||
14.05.2012, 20:04 | #3 |
abgemeldet
|
Lieber Schmuddi,
ich danke dir für deinen reflektierten und wunderbaren Kommentar - und dein Lob. Toll, dass dir der Text gefällt und du dich so intensiv damit auseinandergesetzt hast - das ist keine Selbstverständlichkeit. Es freut mich sehr, dass dir gerade die Sachen aufgefallen sind, die mir beim Schreiben des Textes besonders am Herzen lagen. "Vital" klingt wirklich zu sehr nach Fitnesswahn - da gebe ich dir recht. Ich werde es durch "fit" ersetzen. Nein, ich werde einen angemesseren Ausdruck dafür suchen. Danke für deine Lektüre und Textarbeit!!! Viele liebe Grüße vom Auswanderer |
14.05.2012, 20:15 | #4 |
Forumsleitung
|
Warum nicht einfach "stärker" oder "robuster"? Das paßt in den Kontext.
Schön geschriebene Reflexionen, recht wehmütig in diesem Zwischenstadium von Abschied und Aufbruch. Großes Lob für die klare Sprache und die (fast) fehlerfreie Rechtschreibung; das allein ist eine Wohltat für den Leser. Lieben Gruß Ilka |
14.05.2012, 20:27 | #5 |
abgemeldet
|
Ich danke dir, Ilka.
Das freut mich sehr zu hören. Ja, "robuster" gefällt mir gut - vielleicht auch "kräftiger". Du hast recht, die Rechtschreibung ist sehr wichtig. Dein Lob freut mich. Ich werde verstärkt auf meine Rechtschreibung achten und mich diesbezüglich noch mehr bemühen. Das Lesevergnügen soll durch nichts beeinträchtig werden. Vielen Dank für deinen schönen Kommentar. Liebe Grüße und einen schönen Abend Peace |
Lesezeichen für Brief eines Auswanderers |
|
Ähnliche Themen | ||||
Thema | Autor | Forum | Antworten | Letzter Beitrag |
Tod eines Dorfpfarrers | Schmuddelkind | Düstere Welten und Abgründiges | 7 | 27.06.2016 21:53 |
Tod eines Herzens | guyinlove | Gefühlte Momente und Emotionen | 0 | 29.11.2010 16:37 |
Nur eines | wortmasseur | Düstere Welten und Abgründiges | 0 | 14.12.2009 22:47 |