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Alt 08.05.2025, 20:49   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Vorbild

„Anzeige in der Ortszeitung?“

Patrick nickte. „Ja, natürlich.“ Er nickte roboterhaft zu allen Fragen, die ihm gestellt wurden, unfähig, über Sinn oder Unsinn seiner Zustimmung urteilen zu können.

Der Bestatter kreuzte das entsprechende Kästchen auf seinem Auftragsbogen an. „Gut. Sie bekommen von uns Textvorschläge, aber Sie können den Wortlaut selbstverständlich selber festlegen. Ich nehme an, die Anzeige soll am Wochenende erscheinen?“

Patrick antwortete nicht. Die Frage des Bestatters schwebte jenseits seiner wahrnehmbaren Welt. In Gedanken verweilte er noch am Bett seiner sterbenden Mutter, die ihm das Abschiednehmen verweigert hatte. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sie sich seiner Anwesenheit bewusst gewesen war. „Warum ist Heiko nicht hier? Warum kommt er nicht?“, wiederholte sie und ließ ihre Augen durch das Schlafzimmer gleiten, suchend, zur Tür gehend, die sich nicht öffnete, durch die niemand kam, Blicke hin und her, aber ohne von Patrick Notiz zu nehmen. „Heiko, mein Heiko.“ Mit seinem Namen auf den Lippen starb sie.

Patrick konnte sich an seinen Bruder, der acht Jahre älter war als er, gut erinnern. Er war sein Vorbild gewesen, ein athletisch gebauter Kerl, der im ortsansässigen Sportverein boxte und recht ordentlich Fußball spielen konnte, immer die hübschesten Freundinnen hatte und nie in Raufereien mit Nebenbuhlern geriet, weil alle Jungs Respekt vor ihm hatten und es lieber nicht darauf ankommen ließen, aus einem Härtetest mit gebrochener Nase hervorzugehen.

Obendrein war Heiko gescheit gewesen, hatte in der Schule immer brillante Note und das Abitur mit einem Fingerschnippen bestanden. Sein Traum war gewesen, Theologie zu studieren. Mutter war stolz auf ihn und gab ihm das hart ersparte Reisegeld, um sich an der Uni einzuschreiben. Sein Abschied war fröhlich. „Bis bald“, sagte er und drückte Mutter an sich, ehe er in den Zug stieg.

Er kam nicht zurück. Die Recherchen der Polizei ergaben, dass er sich tatsächlich an der Uni eingeschrieben hatte, aber danach verlor sich seine Spur. Im Laufe der Jahre wurde er zu einem „cold case“ in der Vermisstenfahndung.

Doch Patricks Mutter hatte nie die Hoffnung aufgegeben, Heiko eines Tages wiederzusehen. Hartnäckig trotzte sie den Spekulationen, er könne einem Unfall oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Und so war es für sie nur konsequent, dass ihr letzter Gedanke ihm galt.

Patrick musste sich mit dieser Tatsache abfinden. Stoisch ließ er die Trauerfeier für seine Mutter über sich ergehen und hoffte, dass die Rede am Grab und die Niederlassung der Urne an diesem regnerischen Tag nicht mehr viel Geduld fordern würden.

Aber es dauerte. Die Pfarrerin holte noch einmal weit aus und beschwor alle Segen, die das Ritual zur Verfügung stellte. Und während Patrick von einem Bein auf das andere trat, fiel ihm ein Mann abseits der Trauernden auf, die sich an dem Grab versammelt hatten.

Er war eine stämmige Gestalt mit grauem Vollbart und schulterlangem Haar. Seine Kleidung wirkte leicht verlottert. Patrick kniff die Augen zusammen: Etwas an diesem Kerl kam ihm vertraut vor. Die eine Schulter hing etwas tiefer als ihr Pendant, und der Kopf schien eine Spur zu schief auf dem sehr langen Hals zu sitzen. Wie unter Befehl ging Patrick auf den Mann zu, der sich abrupt umdrehte und einen schnellen Schritt einlegte, als wolle er fliehen. Patrick rannte ihm hinterher. „Heiko! Bleib stehen!“

Doch Heiko beschleunigte seine Schritte. „Giraffe! Bleib stehen!“, rief ihn Patrick noch einmal hinterher, und jetzt, da Heiko seinen Spitznamen hörte, blieb er stehen. Gegen den jüngeren Bruder hätte er ohnehin keine Chance gehabt, noch weit zu kommen.

Auge in Auge, Blick und Gegenblick. Dieselben blauen Augen. Und die Vertrautheit einer vergangenen, wiederauferstandenen Zeit.

„Zu spät, Heiko.“

„Hab’s erst in der Zeitung gelesen.“

„Immerhin.“

„Ja, immerhin.“

„Wo warst du in all den Jahren?“

„Im Sumpf. Die Intellektuellen nennen es Subkultur, aber es war der Sumpf. Ist es noch.“

Heiko nestelte an der Innentasche seines Sweaters und holte einen Flachmann hervor. Er schraubte ihn auf, setzte ihn an die Lippen und nahm einen gehörigen Schluck. Dann hielt er Patrick den Flachmann hin: „Willst du?“

Patrick stieg der beizende Geruch billigen Fusels in die Nase, und er wich zurück. Heiko lachte. „Du warst immer ein Heiliger. Aber ich war’s, den unsere Mutter verehrte. Sie glaubte an mich wie an Herrn Jesus selbst. Bin ich aber nicht.“ Er fuchtelte mit dem Flachmann vor Patricks Nase herum. „Der hier ist mein Evangelium, das mich am Leben hält.“

„Oder dich umbringt“, ergänzte Patrick trocken.

„Wenn schon. Irgendwann sterben wir alle. Ich will aber im Genuss sterben, nicht betend vor einem Altar in einer kalten Kirche. Das ist mir zu meinem Seelenheil noch rechtzeitig bewusst geworden.“

„Du hast unserer Mutter das Herz gebrochen.“

„Und du?“

„Ich nicht. Ich war bei ihr, als sie starb.“

„Hat sie noch gesprochen? Welche Worte?“

„Heiko! Mein Heiko!“

Heiko legte Patrick die Hand auf die Schulter und atmete tief durch. „Sieht du, mein Junge.“ Dann wandte er sich ab und eilte dem Ausgang des Friedhofs zu.

08.05.2025
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Alt 09.05.2025, 07:17   #2
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Zitat:
Anzeige in der Ortszeitung?“

Patrick nickte. „Ja, natürlich.“ Er nickte roboterhaft zu allen Fragen, die ihm gestellt wurden, unfähig, über Sinn oder Unsinn seiner Zustimmung urteilen zu können.

Der Bestatter kreuzte das entsprechende Kästchen auf seinem Auftragsbogen an. „Gut. Sie bekommen von uns Textvorschläge, aber Sie können den Wortlaut selbstverständlich selber festlegen. Ich nehme an, die Anzeige soll am Wochenende erscheinen?“
Hallo Ilka,

um das Erscheinen der Todesanzeige kümmert sich der Bestatter normalerweise nicht. Die muss man selbst (also die Angehörigen) bei der Tages- oder Ortszeitung aufgeben. Oder man lässt es, ist ja keine Pflicht.
Mag sein, dass es im Rahmen der Dienstleistungen vom Bestatter angeboten wird, aber dann zahlt man für etwas zusätzlich, was man auch selbst erledigen kann.

Zur Geschichte an sich: Sie hat kein überraschendes Ende, auch wenn sie eigentlich spannend erzählt ist.

Zitat:
Hat sie noch gesprochen? Welche Worte?“

„Heiko! Mein Heiko!“
Er hätte seinem Bruder auch einfach etwas anderes erzählen können.


LG DieSilbermöwe
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Alt 09.05.2025, 08:03   #3
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
um das Erscheinen der Todesanzeige kümmert sich der Bestatter normalerweise nicht.
Der Bestatter, den wir nach dem Tod meines Vaters beauftragt hatten, fragte die Schaltung einer Anzeige ab. Er hätte das erledigt, wenn wir es gewünscht hätten.

So war es auch jetzt bei einem Todesfall in der Familie meines Lebensgefährten.

[/QUOTE]Er hätte seinem Bruder auch einfach etwas anderes erzählen können.[/QUOTE]

Warum hätte er lügen sollen? Dafür gibt es kein Motiv.
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Alt 09.05.2025, 11:36   #4
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Standard wow Ilka

... großes Seelendrama.

Leben wir für uns, nach unseren Vorstellungen oder gehen wir den Weg, den andere für uns vorhersehen/ bestimmen/ erwünschen?
Sind wir noch selbst bestimmt, falls wir es gar nicht bemerken?

Ich finde es herrlich, wie du immer wieder Geschichten konstruierst, die mit ihren unterschiedlichen Konstellationen vorstellbar erscheinen und vermutlich sogar irgendwo irgendwann so geschehen sind.

beaux rêves
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Alt 09.05.2025, 12:13   #5
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Leben wir für uns, nach unseren Vorstellungen oder gehen wir den Weg, den andere für uns vorhersehen/ bestimmen/ erwünschen?
Sind wir noch selbst bestimmt, falls wir es gar nicht bemerken?
Beides, wenn auch unterschiedlich gewichtet. Das ist das Dilemma des Menschen: Er will sich abgrenzen, sich selber finden und wissen, was für ihn den Sinn seines Daseins ausmacht. Andererseits ist er bekanntlich ein soziales Wesen, das der Gemeinschaft bedarf, denn allein ist er psychisch und physisch nicht überlebensfähig. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Anpassung und Individualismus strebt er ständig nach Kohärenz, nach einem Ganzsein, was aber nicht funktioniert, da er ständig in neue Konflikte eintaucht und wiederum eine Balance finden muss.

Es gibt nur eine einzige vollständige, immerwährende Konhärenz, nämlich den Tod. So erklärt es zumindest der Gehirnforscher Gerald Hüther. Und auch der Philosoph Karl Raimund Popper betitelte eines seiner Bücher mit "Alles Leben ist Problemlösen".

Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Ich finde es herrlich, wie du immer wieder Geschichten konstruierst, die mit ihren unterschiedlichen Konstellationen vorstellbar erscheinen ...
Das Thema ist alt und schon zigfach in der Literatur bearbeitet worden. Niemand, der dem Schreiben verfallen ist, muss sich verquere, ausgefallene Themen ausdenken, was wahrscheinlich auch unmöglich ist. Das Originelle liegt darin, das Thema - den Konflikt, wenn du so willst - aus einer neuen Perspektive zu schildern, Ort, Zeit und Genre auszutauschen und dergleichen. Es war z.B. in meinen Schreiblehrgängen eine Übungsarbeit, einen gleichen Inhalt in fünf verschiedenen Genres zu bearbeiten, z.B. als Drama, Liebesgeschichte, Western, Krimi und Abenteuer. Man kann aber eine Geschichte in verschiedenen Welten nicht eins zu eins ansiedeln, also muss man Anpassungen vornehmen, so dass jede doch ein wenig anders ist. Das ist nicht nur spannend, sondern macht auch Spaß.

Danke fürs Lesen und besten Gruß
Ilka
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Alt 09.05.2025, 17:10   #6
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Zitat:
Warum hätte er lügen sollen? Dafür gibt es kein Motiv.
Ich finde schon.
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Alt 09.05.2025, 20:14   #7
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Welches? Unvorbereitet und aus der Situation heraus.
Freie Fahrt, meiner Geschichte eine andere Wendung zu geben. Ich vertraue sie dir an, sie gehört dir. edas Ende um. Das ist ernst gemeint, ohne jegliche Hintergedanken.

Du hast andere Bilder im Kopf als ich. Wäre doch spannend, sie zu sehen. Zu diesem Austausch sind wir doch hier. Ich bin gespannt.

Besten Gruß und viele kreative Gedanken,
Ilka
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Alt 10.05.2025, 09:14   #8
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Welches? Unvorbereitet und aus der Situation heraus.
Freie Fahrt, meiner Geschichte eine andere Wendung zu geben. Ich vertraue sie dir an, sie gehört dir. edas Ende um. Das ist ernst gemeint, ohne jegliche Hintergedanken.

Du hast andere Bilder im Kopf als ich. Wäre doch spannend, sie zu sehen. Zu diesem Austausch sind wir doch hier. Ich bin gespannt.

Besten Gruß und viele kreative Gedanken,
Ilka
Gut, das nehme ich an. Allerdings wird das nicht lang; ich ändere dann erst ab hier:
Zitat:
„Du hast unserer Mutter das Herz gebrochen.“

„Und du?“

„Ich nicht. Ich war bei ihr, als sie starb.“

„Hat sie noch gesprochen? Welche Worte?“

LG DieSilbermöwe
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Alt 10.05.2025, 10:32   #9
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Hier ist die Änderung:

„Du hast unserer Mutter das Herz gebrochen.“

„Und du?“

„Ich nicht. Ich war bei ihr, als sie starb.“

„Hat sie noch gesprochen? Welche Worte?“

Patrick sah seinen Bruder an. Wut stieg in ihm hoch. Also hatte er in all den Jahren, in denen die Mutter sich verzehrt hatte vor Sorge um Heiko, es nicht nötig gehabt, ein Lebenszeichen von sich zu geben. Kein Brief, kein Anruf, nichts. Er hätte auch vor der Tür stehen können, genauso zerlumpt, wie er jetzt war. Seine Mutter hätte ihn in die Arme geschlossen. So war sie im Ungewissen gestorben, mit den Worten „Heiko! Mein Heiko!" auf den Lippen.

„Ihre letzten Worte?", wiederholte er. „Die waren: Mein Patrick. Mein einziger Sohn."
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