Die Frau auf dem Balkon
Im Haus schräg gegenüber, dessen Fassade nach alter Tradition des Stadtviertels mit blassroten und ockerfarbenen Backsteinen im Muster eines Kreuzworträtsels geschichtet ist, sehe ich eine junge Frau mit einem Haarschopf in den unentschlossenen Farben eines Herbstblatts. Sie steht auf einem gegitterten Mini-Balkon. Offenbar macht sie gerade eine Zigarettenpause, die nach Vorschrift der Firma, für die sie arbeitet, im Freien stattfinden muss. Aus ihrem kurz geschnittenen blonden Haar wächst auf Scheitelhöhe eine sich nach hinten verbreiternde dreifingerdicke Spur rot eingefärbter Strähnen. Von unten röhrt ein Sportwagen herauf, der, um Aufsehen zu erregen, im ersten Gang gefahren wird, von oben machen Sonnenstrahlen zwischen kleinen wie hingezeichneten weißen Wölkchen auf sich aufmerksam. Ich sehe nach oben, die Frau nach unten. Sie trägt enge Jeans und ein ockerfarbenes T-Shirt, auf dem etwas Rotes steht, das ich von hier aus nicht lesen kann. Jeans und T-Shirt hören etwas zu früh auf, man kann den schmalen Hautstreifen dazwischen lesen Hey, ich bin schlank und sexy. Das Gesamtpaket wird durch schwarze High Heels vervollständigt Als sie dem Sportwagen nachblickt, dengelt sie mit dem Stiletto ans Eisengeländer. Das Kreuzworträtsel verschattet für einen Moment, und die Frau schüttelt ein kurzes Frösteln von den Schultern. Als sie sich über das Geländer beugt, um abzuklären, ob zufälligerweise jemand unter dem Balkon vorbei geht, und dann die Asche von ihrer Zigarette tippt, bleibt sie, die Arme auf das Geländer gestützt, eine Weile in dieser leicht vornüber geneigten Haltung. Ihr Kopf besteht nur noch aus Haaren und vor dem Hintergrund der in Rot und Ocker gesprenkelten Fassade wird das Oval ihres Haarschopfs Teil des rechteckigen Backsteinmusters. Als ich mir eine Zigarette anstecke, blickt sie plötzlich auf und winkt mir zu. Die diskriminierenden Nichtrauchergesetze haben manchmal überraschend erfreuliche Seiten.
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