Der harte Schnitt

[Ilka-Maria]

Sie waren sich einig und zogen vom Leder:
Du bist und bleibst ewig ein Dummerjan.
Schau dir dein Gesicht bloß im Spiegel an!
Aus dir kann nichts werden, so denkt von dir jeder.

Ich ging durch mein Leben mit hängenden Ohren.
In Schweigen, an Mut und an Seele schachmatt,
entfloh ich zur Bibliothek unsrer Stadt
und wünschte von Herzen, ich wär nie geboren.

Da kam mir ein Buch unerwartet zu Händen,
im Titel „Das Profilierungssyndrom“,
und als ich es las, stand ich unter Strom
und wusste: Ab jetzt wird mein Leben sich wenden.

Ich musste für niemanden etwas werden,
ich war schon ein Ich beim Erblicken der Welt,
das in sich Geschenke des Schöpfers enthält,
befähigt, ein Jemand zu sein hier auf Erden.

Ich kann euch nicht helfen, drum geh ich für immer.
Die beiden Betagten waren entsetzt,
die Augen des Vaters von Tränen benetzt,
die Stimme der Mutter konfuses Gewimmer.

Ich hab sie bis heute nicht wiedergesehen,
mich reute auch niemals der harte Schnitt:
Als freies Subjekt fand ich festen Tritt
und würde den Weg immer wieder gehen.

21.06.2022

[dunkler Traum]

... Thema toll ausgesucht und umgesetzt. Klingt für mich aber so, als hätten auch die Eltern mit gemosert, traurig.

wünsche schöne Träume

[DieSilbermöwe]

Ich glaube, nur die Eltern sind hier gemeint.

[Ilka-Maria]

Zitat von DieSilbermöwe

Ich glaube, nur die Eltern sind hier gemeint.

Richtig. Das geht aus Strophe 5 auch klar hervor.

[dunkler Traum]

... aus der 5ten geht für mich nur ihre Traurigkeit und Betroffenheit hervor. Erst als er sie in der 6ten nie mehr wieder sah, erleuchtete es mich.
Jeder interpretiert anders.