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Alt 09.06.2022, 07:56   #1
Sunyata
 
Dabei seit: 01/2022
Beiträge: 27


Standard Fleischgabel

„Ich glaube, wir sollten hier nach rechts gehen“, sagtest du, während du deine Hand aus meiner befreitest wie ein Schmetterling aus seinem Kokon, um dir eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Ich blickte auf die Gabelung des Schotterwegs vor uns, welche im Morgengrauen kaum einen Blick darauf zu erhaschen erlaubte, wohin die Wege führen. Die Luft war kalt und klar, der Vogelgesang wurde vom Beginn des Tages langsam vertrieben und der süße Duft der Nacht floh vor den Sonnenstrahlen. Du stelltest deinen Rucksack ab, um aus deiner Flasche zu trinken.
„Da geht es doch lang, geradeaus. Der Berg da“, ich hob meinen linken Arm, um auf einen Gipfel zu zeigen, während mein rechter heimlich versuchte, deine schlanke Schulter zu umfassen, „das ist doch der, an dem wir vorbeilaufen müssen. Das Rothorn. Irgendwo dahinter müssten Brienz und der Bahnhof kommen.“
Du senktest die Flasche ab, schautest mich mit deinen haselnussbraunen Augen skeptisch an und schobst meinen Arm wieder weg, nicht ohne sanft über ihn zu streifen. Vielleicht ahntest du, dass ich keinen Schimmer hatte, wohin es ging. Vielleicht wusstest du es auch nicht, oder vielleicht wolltest du es auch gar nicht wissen.
„Nein, wir sollten nicht weiter in die Richtung. Ich glaube, das ist der falsche Weg. Wir sollten weiter am Bach entlang.“
„Warum? Komm, lass uns da lang gehen, ich bin mir sicher.“
Mir war es wichtiger, dass du mit mir kommst, als anzukommen. Ich setzte an, loszulaufen, doch du rührtest dich nicht. Ich fokussierte dich mit meinen Augen, als wollte ich dich auf meine Netzhaut tätowieren. Fragend hob ich die Hände, am liebsten hätte ich sie zum Himmel gehoben wie ein stummer, verzweifelter Hilferuf.
„Schau besser auf Maps nach. Mein Zug nach Hause geht früher als deiner und ich möchte ihn nicht verpassen.“
Wir kramten beide in unseren Taschen, auf der Suche nach der Antwort auf all unsere Fragen. Deine Wanderschuhe krallten sich in den Schotter wie eine Löwenpranke in ein Gnu. Aus irgendeinem Grund beneidete ich das Gnu in meiner Vorstellung. Wenn sich die Krallen in sein Fleisch versenken, kann es sich seiner Zukunft sicher sein, es weiß, dass es verzehrt, verschlungen, verdaut werden wird von einer gierigen Löwin.

„Mein Handy hat keinen Empfang. Wie sieht es bei dir aus?“
„Ich habe auch keinen. Ich weiß auch nicht mehr, wann ich das letzte Mal Empfang hatte.“
„Vielleicht hättest du dir die Karte vorher herunterladen sollen …“, murmelte ich genervt, während du dein Handy hoffnungsvoll höher hieltest und meinen Kommentar mit einem Augenrollen beantwortetest. Du schwenktest ein paar Mal das kleine schwarze Kästchen vor dem Alpenpanorama hin und her, es schimmerte in den jungen Sonnenstrahlen. Immer wieder traf mich dein Blick aus dem Augenwinkel, du wusstest, dass ich dich beobachtete, lauerte, wartete. Nicht nur ich. Wir waren nicht allein. Seit wir eines Abends nach zu viel Haselnusslikör und zu wenig Sauerstoff oben in der Hütte beschlossen, zusammen weiterzuwandern, waren wir nicht mehr nur zwei Wanderer.
„Und wohin gehen wir jetzt weiter?“, fragte ich, doch mir ging es eigentlich um etwas anderes. Ich die Hoffnung, endlich eine klare Antwort zu bekommen, die richtige Antwort zu bekommen, endlich jene Antwort zu bekommen, auf die ich seit gestern Abend wartete.
„Ich weiß es nicht. Ich habe keine Karte bei mir.“
„Du entscheidest.“
„Was? Warum?“
„Du hast gerade gemeint, wir sollten nicht geradeaus weiter. Es ist in Ordnung, dass du anderer Meinung bist. Aber dann sag mir wenigstens endlich, was du willst.“

„Geht es dir darum, wohin ich will, oder was ich will?“
Ich stöhnte auf und warf meinen Rucksack zu Boden, der Schotter krachte unter ihm mit einem schmerzhaften Geräusch während mein Rücken sich still bedankte. Ich drehte mich um und starrte in den Kiefernwald. Er starrte mitleidig zurück. Die Verlockung war groß, ins Unterholz zu rennen, vor dieser Situation zu fliehen, ich wollte lieber mein Gesicht zerkratzen, als es zu verlieren.
Ich hörte dich hinter mir besorgt schnaufen.
„Hör mal, es tut mir leid, dass ich nicht heute keine Entscheidung treffen kann. Dass ich dir nicht sagen kann, wie es von hier aus weitergeht. Dass ich dir hier und jetzt nicht geben kann, was du willst. Wer weiß, was wir morgen, wenn wir wieder daheim sind, über all das hier denken werden? Vielleicht kreuzen sich die Wege, vielleicht nicht. Aber warum müssen wir das jetzt schon entscheiden?“
Deine Worte stachen in mein Herz. War es etwas anderes als ein Stück Fleisch für dich? Etwas, das man schnell auf den Grill wirft, kurz gareb lässt, wendet und dann über die Theke gibt?
Ich drehte mich um, du standest direkt hinter mir. Kaum eine Handbreit trennte uns, und doch so viel mehr. Als wäre zwischen uns ein eiskalter, wütend schäumender, reißender Gebirgsbach, in den mich dein wunderschönes Gesicht wie Sirenen zerren wollten. Hinter dir vertrieb die aufgehende Sonne den zarten Nebel und färbte den Himmel in einem stählernen Blau. Du versuchtest dich an einem aufmunternden Lächeln, wie eine tröstende Umarmung, nur ohne Berührung.
„Warum sagst du mir nicht einfach die Wahrheit, warum redest du dich immer wieder heraus, warum lenkst du immer wieder davon ab? Ich bin doch nichts anderes für dich als ein Alleinunterhalter, ein Spielzeug, ein Snack auf der Reise. Vorgestern und gestern war ich gerade richtig, um nicht allein zu sein und etwas Spaß zu haben. Heute bin ich lästig, und für morgen bin ich nicht mehr gut genug. Das ist es doch, oder? Ich bin für dich, was für mich der Stock hier ist: praktisch, um damit eine Weile herumzulaufen, aber nichts, was man mit nach Hause nehmen würde!“

Du legtest kurz dein Gesicht in deine Hände, ich dachte, du fingst an zu weinen. Aber als du wieder zu mir aufschautest, war dein Blick so stark und direkt wie eh und je. Schon beim ersten Mal, als ich dich sah, hatte ich diese Stärke in dir gespürt, die mich anzog und gleichzeitig in Panik versetzte. Etwas in dir gab dir den Habitus einer Naturgewalt. In diesen Tagen hatte ich das Gefühl, dass nichts in der Welt dich umwerfen könnte, nichts könnte dich erschüttern oder auch nur verunsichern. Aber ich war trotzdem überzeugt gewesen, dass ich dich besitzen könnte, und deine Kraft machte mich nur noch entschlossener und dich begehrenswerter. Umso wütender wurde ich angesichts deiner Bestrebungen, mir zu entkommen.
„Warum gibt es für dich nur ein Entweder-oder? Entweder ein kurzes Intermezzo oder ein ganzes Leben, ein Aphorismus oder ein epochaler Roman, ein Kerzenlicht oder ein Weltenbrand – warum kann das, was wir zusammen haben, nicht irgendwo dazwischen liegen? Vielleicht sind wir erst einmal beides, vielleicht werden wir das immer sein, oder vielleicht waren wir überhaupt nichts davon.
Wovor hast du solche Angst? Wohin auch immer wir gehen, hat nichts damit zu tun, wer du bist, wie du bist und vor allem: wie wertvoll du bist, sondern damit, was wir beide – du und ich - wollen. Nichts davon sollte dich an dir zweifeln lassen.“
„Denkst du, ich bin aus Stein? Dass ich dich ohne eine Antwort gehen lasse, ohne dabei mit der Wimper zu zucken, ohne Schmerz und auch etwas Wut? Soll ich mir selber auf die Schulter klopfen dafür, dass du mich stehen lässt? Denkst du, ich bin ein Mann ohne Stolz?“
Du lächeltest kurz, gabst mir einen sanften Klaps auf die Wange und sprachst: „Nein, natürlich nicht. Dein Schmerz und deine Wut sind genau das, was du jetzt empfinden solltest. Genau wie ein Gewitter zum Sommer gehört. Aber du musst nicht bitter werden, und darfst dich nicht gegen dich selbst wenden. Ich bin das nicht wert. Niemand darf dir das wert sein. Aber dein ach-so-männlicher Stolz sollte dir nicht die Erinnerung an die wundervollen Tage vergiften, die wir zusammen hatten.“
Für einen kurzen Augenblick schien es, als würde alles schweigen, die Vögel, das kleine Rinnsal neben uns, der Wind in den Kiefernnadeln. Du gabst mir einen Kuss auf die Lippen, sanft wie ein Atemzug. Ich wollte ihn erwidern, doch ich wusste, dass ich mich dann in diesem Moment verloren hätte. Ich hing an deinen Lippen und konnte nicht anders, als ihnen zu gehorchen. Wo gerade noch Wut war, war jetzt Wehmut – wie sollte ich jemanden zürnen, der selbst meinen Zorn so schätzte? Ich strich durch dein lockiges Haar und berührte deinen Arm, nahm deine Wärme in mir auf. Es war, als wären für eine Sekunde unsere Körper wieder eins. Dann war der Moment vergangen.

Wie einer der Kiefern stand ich da, mit dem Fels unter uns verwachsen, und starrte dich an, als du die Flasche wieder in deinen Rucksack packtest, das Monstrum auf deinen im Vergleich viel zu kleinen Rücken hievtest und die Gurte straff schnalltest. Du nahmst deinen Stock, rammtest ihn in den Boden und fingst an, loszuwandern, als wäre nie etwas geschehen. Plötzlich begriff ich, was vor sich ging, befreite mich aus meiner Erstarrung, doch alles, was ich sagen konnte, war: „Was tust du?“
„Ich gehe meinen Weg. Du den deinen. Für den Moment zumindest. Wer weiß, vielleicht führen sie zum selben Ort und bringen uns wieder zusammen?“
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beziehungen, liebe, streit

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