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Alt 14.03.2022, 14:34   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Remény

„Igitt!“

Andreas hatte gerade seinen Koffer geöffnet, um die benutzte Kleidung in die Wäsche zu geben und die noch frische in seine Schrankfächer zu schichten, als ihm Susannes spitzer Schrei in die Ohren drang. „Komm schnell mal her!“ Seufzend ließ er den Kofferdeckel zufallen und trottete los. Er kannte Susannes hysterische Reaktionen auf harmlose Regenwürmer und Spinnen, die ihr im Vorgarten bei der Pflanzenpflege in die Quere kamen, und sah sich deshalb nicht zur Eile genötigt. Durch die Terrassentür fiel der grelle Schein der Mittagssonne ins Wohnzimmer und blendete ihn, so dass er Susanne nur schemenhaft im Gegenlicht erkennen konnte. Er trat hinaus. „Wo brennt’s denn wieder?“

„Guck doch selbst, was sich bei uns eingenistet hat! Und wie das stinkt!“ Susanne nahm den Rand des Lakens, das während ihres Urlaubs die Hollywoodschaukel vor dem Einstauben schützen sollte, und hob es soweit an, dass Andreas die Bescherung sehen konnte. „Die Viecher haben die Auflage total versifft, den Gestank bekommt man nie wieder raus!“ Sie verzog vor Ekel den Mund und ließ das Laken fallen.

Andreas hob es wieder an und betrachtete entzückt die fünf Kätzchen, die auf der Schaukel dicht gedrängt beieinander lagen. „Jetzt krieg dich wieder ein, Susanne. Das sind ein paar süße Miezen, die ab und zu mal ein Pullerchen machen …“.

„Hast du sie noch alle!?“, schnappte Susanne. „Die müssen weg. Schmeiß sie in den Fluss oder in den Ofen … mir egal … nur weg mit denen!“

„Ich bringe keine Katzenbabys um, nur weil sie auf deine heißgeliebte Schiffschaukel gepinkelt haben …“

„Hollywoodschaukel. Und ein Geschenk meiner Mutter, falls du das vergessen haben solltest.“

„Hab‘ ich nicht. Deine Mutter ist nämlich ein herrschsüchtiger Drache, dem wir zwei Drittel unserer Einrichtung zu verdanken haben, ohne dass ich jemals gefragt wurde, ob mir der Plunder gefällt.“

„Und du bist ein undankbares, widerwärtiges Scheusal und ein kompletter Vollidiot!“

„Na prima. Das ist also das Ergebnis unseres Versöhnungsurlaubs.“

Susanne setzte eine trotzige Miene auf. „Machst du’s jetzt endlich, oder machst du’s nicht?“

Andreas seufzte und sah sich um, aber von der Mutterkatze war weit und breit nichts zu sehen. „Und wenn die Alte zurückkommt und nach den Kleinen sucht?“

„Was schert mich die Alte. Die lebt wahrscheinlich nicht mehr, sonst wäre sie längst hier. Schaff mir die Viecher vom Hals!“

Also stapfte Andreas in die Wohnung zurück, ging zur Besenkammer, nahm einen der Körbe von den Haken an der Wand und polsterte ihn im Badezimmer mit Handtüchern aus. Damit kam er auf die Terrasse zurück, nahm ein Kätzchen nach dem anderen von der Hollywoodschaukel und setze es behutsam in den Korb.

„Jetzt müssen auch noch die Handtücher dran glauben“, murrte Susanne, ließ ihn aber von da an in Ruhe.

Er telefonierte drei Stunden lang herum, und es gelang ihm, ein paar Herzen zu erweichen. David, sein bester Freund, war bereit, eins der Kätzchen zu nehmen, ein zweites wurde er an eine ehemalige Kommilitonin los, die schon zwei Katzen hatte, das dritte übernahm eine Nachbarin, und das vierte nahmen die Sprechstundenhilfen einer nahegelegenen Tierklinik auf, die versprachen, sich um die Vermittlung zu kümmern.

Nachdem er die vier Kätzchen abgeliefert hatte, setzte er den Korb auf den Beifahrersitz seines Toyota und fuhr damit ins Westend der Stadt. Er hielt vor einer Villa aus der Gründerzeit, durch deren gekippte Parterrefenster Klaviermusik auf die Straße drang. Vor der Eingangstür las er, wie schon oft zuvor, das Schild „Ballettschule Lara Molnár“. Er zögerte zunächst, drückte dann aber doch auf die Klingel und wartete, bis drinnen das Klavier verstummte und die Tür mit dem vertrauten Summen aufsprang.

Lara hob die Augenbrauen, als sie Andreas erblickte. „Du?“ Ihr Gesicht verbarg nicht, dass sie freudig überrascht war. „Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal hier zu sehen“, sagte sie. Andreas war erleichtert, dass im Studio niemand war; offensichtlich hatte Lara allein am Klavier geübt. Also hatte sie Zeit. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte er und hob den Korb hoch, den er neben der Tür außer Sichtweite für Lara abgestellt hatte. Sie schaute hinein und runzelte die Stirn. „Ein Katzenbaby? Ist das nicht zu klein, um schon von der Mutter fortgenommen zu werden?“

Andreas zuckte die Schultern. „Die Mutter ist nicht mehr aufgetaucht. Vier dieser Winzlinge habe ich unterbringen können, und das hier ist übrig.“

„Warum behältst du es nicht?“

„Wegen Susanne. Sie hat etwas gegen Tiere im Haus.“

Lara nahm ihm den Korb ab. „Komm mit. Das arme Ding muss hungrig sein.“

Andreas folgte ihr die Treppe hinauf zur Wohnetage. Sie stellte den Korb in der Küche auf den Fußboden und inspizierte den Kühlschrank. „Nicht mehr viel drin. Ich werde die Nachbarin fragen müssen, womit ich das Kätzchen füttern kann und ob sie etwas von ihrem Vorrat übrig hat.“ Dann nahm sie eine Flasche Rotwein, öffnete sie und goss zwei Gläser voll ein. „Auf unser unverhofftes Wiedersehen.“

Sie stießen im Stehen an und nahmen jeder einen Schluck aus ihren Gläsern.

„Wie war dein Urlaub?“

„Soweit in Ordnung. Schöne Umgebung, gepflegtes Hotel und durchweg tolles Wetter.“

„Das meine ich nicht. Was heißt ‚soweit in Ordnung‘? Du und Susanne … hat’s der Urlaub für euch gebracht? Habt ihr wieder zusammengefunden?“

Andreas stierte eine Weile vor sich hin, als sei er sich unschlüssig darüber, die richtige Antwort zu kennen. Aber dann schaute er Lara offen in die Augen. „Nein, Lara. Ich fürchte, nein.“ Er stellte sein Glas auf der Anrichte ab. „Und ich bin froh, zurückgekommen zu sein. Zu dir. Ich wäre sowieso wiedergekommen, aber vielleicht nicht so bald.“ Er nahm sie in die Arme und küsste sie. „Mein Koffer ist noch nicht ausgepackt.“

„Ich habe Platz für zwei“, erwiderte Lara und ließ sich bereitwillig nochmal küssen.

Andreas nahm das Kätzchen aus dem Korb. „Das ist unser Glücksbringer. Er hat mir endgültig auf die Sprünge geholfen. Wie wollen wir das Kerlchen nennen?“

„Remény.“

„Klingt hübsch. Was heißt das?“

„In meiner Muttersprache bedeutet es ‚Hoffnung‘.“

14.03.2022
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