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Die Philosophen-Lounge Forum für philosophische Themen, Weisheiten und Weltanschauungen.

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Alt 29.12.2021, 13:42   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Bestandsaufnahme zur deutschen Sprache

Der Lehrer und Psychologe Josef Kraus (Jahrgang 1949) hielt vor einiger Zeit einen Vortrag zum Thema Bildungsverfall, in dem er behauptete, der Wortschatz eines Kindes im frühen Schulalter (also um rd. 8 Jahren) habe sich in den vergangenen 30 Jahren fast halbiert.

Diese Behauptung scheint sich mit Studien zu decken, die nachzuweisen versuchen, dass die Menschen nach jahrzehntelangem geistigen Höhenflug nunmehr immer dümmer werden. Soweit es Deutschland betrifft.

Es scheint sich auch mit der Beobachtung zu decken, dass die Menschen immer mehr palavern und schreiben, vor allem in ihre Smartphones, aber ihrem Palaver und Geschreibsel keinen Inhalt mehr gestatten und sich obendrein mit einem eingeschränkten Wortschatz, Smilies und Symbolen zufriedengeben. Kurz gesagt: Kommunikation scheint unter Ausschaltung des Cortex und somit nur noch mit der Rückenmarkverlängerung stattzufinden. Zurück in die Pfütze des Einzellers!

Der Philosoph Jochen Kirchoff zitiert gerne Nietzsche. Warum? Weil dieser kranke und völlig bekloppte Zeitgenosse Sigmund Freuds ein hochbegabter Stilist war, in dessen Sprache man sich schönbaden konnte. Aber der moderne Mensch versteht sie nicht mehr. Im Zeitalter der Sprechblasen, der Verkürzungen und der Peng-Wumm-Wörter muten sie langweilig an. Der Leser müsste über Nietzsches Sätze nachdenken, und das ist in einem Zeitalter, in dem man mit hundert Sachen die Fernsehsendungen eines Tages von mindestens zehn Anstalten innerhalb von fünf Minuten gleichzeitig schluckt, zu viel verlangt.

Dabei müsste es nicht Nietzsche sein, um sich literarisch an Feinschliff zu üben. Die Bibel oder Grimms Märchen könnten als Vorbilder ebenfalls locker bestehen.

Aber wer liest denn noch? Bildzeitung und Pornoheftchen ausgenommen ...

Aber geschrieben wird auf Teufel komm raus. Und dabei kommen Plattitüden heraus wie Herz- und Seelenschmerz, rollende Tränen, ewige Liebe, Sehnsuchtsgeschmachte und ...

Na ja, dann kommt so gut wie nichts mehr. Der Wortschatz ist erschöpft. Die Seele auch, wo immer sie sitzen mag, aber wenn sie sich erholt hat - was sie immer tut - fällt ihr nichts Originelleres ein. Da ist nichts mit Phönix-aus-der-Asche.

Wer heute noch auf Lehramt studiert, muss wahrlich verrückt oder ein unverbesserlicher Optimist sein.
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Alt 29.12.2021, 14:03   #2
männlich dunkler Traum
 
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... deutsch ist selbst als Muttersprache nicht allzu leicht. Auch mein eigener Wortschatz schrumpft, weil einige Wörter einfach keine Verwendung mehr finden und auch in Texten kaum vorkommen.
Einen Fall (Genitiv) lassen wir sterben, Zeiten werden nicht angewandt, selbst in unserem Nest gibt es jetzt Strassen, welche sich aber als Straßen sprechen. Wenn man jemanden darauf anspricht, fühle ich mich wie in der 2. Klasse Volksschule - große Augen, Unverständnis - aber ich bin Verwaltungsangestellter, wer ist mehr?
Was hilft das Gejammer, der Weg wird weiter gehen. Dummes Volk lässt sich leichter beherrschen.
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Alt 29.12.2021, 14:38   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
... deutsch ist selbst als Muttersprache nicht allzu leicht.
Keine Sprache ist "leicht". Was soll "leicht" überhaupt heißen?

Wie der Begriff "Muttersprache" besagt, lernt man man die Sprache von der Mutter, nämlich durch das Hören, und das findet in allen Sprachen so statt. Wenn ein Kind in die Schule kommt, kann es bereits alles ausdrücken, was zu seinem Alltag gehört, und die Grammatik hat es ebenfalls intus. Es kann zwischen Der, Die, Das unterscheiden und es weiß, was Wessen, Wem, Wen bedeutet. Es kann auch das Sein vom Tun unterscheiden. Was es noch zu lernen hat, ist die symbolische Umsetzung der Sprache - also das Schreiben und Lesen - und die grammatische Theorie.

Um Schulwissen geht es nicht, sondern um die Voraussetzungen dafür. An ihnen fehlt es an allen Ecken und Enden, das sehe ich täglich in diesem Forum an den Texten, die hier gepostet werden: Sprachvolumen null. Obendrein diese politische Gehirnwäsche, die jungen Leuten in die Babyflasche geträufelt hat, die Welt müsse harmonisch und von Empathie geprägt sein. Verhätschelung und Bauchpinselei hat das Denken totgeprügelt. Betroffenheits- und Empfindsamtkeitskultur sind angesagt, um sich menschlich zu geben. Die Helden von heute sind Versager und Verlierer, niedliche Teddybären, die man sich an die Brust drückt, weil man sich selbst dabei so irrsinnig gut fühlt. Die billige Gefühlsmasche ist längst an die Stelle dessen getreten, was früher jede Gänsemagd in ihren Briefen als gut formuliertes Deutsch niederzuschreiben imstande war. "Schlechte" Wörter spricht und schreibt man nicht mehr, sie sind Gift, wie auch die Realität Gift geworden ist. Politisch korrekt geht die Kultur unter.

Die deutsche Sprache ist am Verrecken, trotz Aufnahme vieler Wörter aus anderen Sprachen und trotz des Einflusses von Immigranten, der eigentlich bereichernd sein sollte. Das ist die traurige Tatsache.
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Alt 30.12.2021, 01:38   #4
männlich Ex-petrucci
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Sprache erfährt seit eh und je Veränderung.
Verreckt die deutsche Sprache? Nein. Sie verändert sich im Zuge des Großwerdens der Generationen. Zum Erhalt wird nicht viel beigetragen - eher stößt man auf offensive Arroganz, die das letzte Interesse zu schreiben in Gänze tötet.

Sie entfernt sich unserem Geschmack und schöpft aus Multikulti, Mainstream und Medien. Sprachverliebte wird es immer geben. Nerds wird es immer geben. Diese Minderheiten werden nicht kleiner.
Unser Schulsystem ist für die Tonne und reparieren lässt sich das nicht mehr.
Wer Sprache aber liebt, wird früher oder später zu ihr finden und wer es nicht schafft, der braucht es nicht.
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Alt 30.12.2021, 05:55   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von petrucci Beitrag anzeigen
Sprache erfährt seit eh und je Veränderung.
Stimmt. Darf sie auch. Wir sprechen nicht mehr wie im Mittelalter.

Zitat:
Zitat von petrucci Beitrag anzeigen
Verreckt die deutsche Sprache? Nein.
Doch. Schlampigkeit und Ignoranz haben nichts mit Veränderung zu tun.

Zitat:
Zitat von petrucci Beitrag anzeigen
Unser Schulsystem ist für die Tonne und reparieren lässt sich das nicht mehr..
Stimmt.

Zitat:
Zitat von petrucci Beitrag anzeigen
Wer Sprache aber liebt, wird früher oder später zu ihr finden und wer es nicht schafft, der braucht es nicht.
Und damit sind wir beim eigentlichen Problem: Niemand liebt die Sprache mehr, aber jeder fühlt sich berufen, sie zu vergewaltigen, indem er irgendwas rauszurotzt, das er für Literatur hält. Dahinter verbirgt sich nicht Leidenschaft für die Sprache, sondern eine narzisstische Selbstverliebtheit: Schaut auf mich, ich schreibe, ich bin Autor, ich habe etwas zu erzählen. Ach, es gefällt euch nicht? Na ja, ihr Blödis, ich schreibe ja nur für mich ...

Wenn es denn so wäre ...
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Alt 30.12.2021, 12:49   #6
männlich Ex-petrucci
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Ich schätze, du schreibst aus deiner Forenerfahrung, oder?

Lyrik ist gar nicht so tot, es gibt in Deutschland aktive Schreiberkreise und gehobenere Portale wie Lyrikline, die die zeitgenössische Sprache am Leben erhalten.

Kritikunfähigkeit ist natürlich in aller Munde und es wird zunehmend schlimmer.
Ich sehe die Verantwortung und die Schuld bei den Eltern und dem Umfeld, aber auch bei einem gewissen Teil der Sprachwissenschaftler wie Lann Hornscheidt.

Eine interessante Schreiberin, die sich generell mit Kunst und Kultur auseinandersetzt und auch mit Sprache wäre Annekathrin Kohout. https://sofrischsogut.com/

Ein anderes Argument wäre die Erwartungshaltung. Die durchschnittliche Norm wird immer Durchschnitt bleiben und somit wird der Durchschnitt immer ein Teil des Kulturpessimismus sein.
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Alt 30.12.2021, 12:57   #7
männlich dunkler Traum
 
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Keine Sprache ist "leicht". Was soll "leicht" überhaupt heißen?
Wenn ein Kind in die Schule kommt, kann es bereits alles ausdrücken, was zu seinem Alltag gehört, und die Grammatik hat es ebenfalls intus. Es kann zwischen Der, Die, Das unterscheiden und es weiß, was Wessen, Wem, Wen bedeutet. Es kann auch das Sein vom Tun unterscheiden. Was es noch zu lernen hat, ist die symbolische Umsetzung der Sprache - also das Schreiben und Lesen - und die grammatische Theorie.
... dies scheint mir eine zweifelhafte Aussage, wünschenswert, aber nicht der Realität entsprechend.
Wie viele deutsche Eltern können deutsch? Früher hatten wir das Radio, die Zeitung und das Fernsehen, welche die deutsche Sprache "sauber" verbreiteten. Woran kann ich mich denn heute noch orientieren? Verballhornung, Framing, Neusprech dringen von überall auf mich ein, "können wir Kanzler?" - meine Synapsen kriegen alltags Schnappatmung. Unsere Sprache wird sich radikal ändern, sie wird doch jetzt schon kaum verstanden. Wenn ich aus der Verwaltung Menschen in einfachem deutsch anschreibe, erhalte ich Antworten, die mich am gesunden Menschenverstand zweifeln lassen. Selbst ein gesundes Sprachverständnis ist nicht mehr vorhanden (ich möchte, ich will, ich hätte gern - wird alles gleich verstanden)
Ich kann nicht sagen, ob Dummheit gewollt ist, mit Sicherheit wird es wohlwollend angenommen.
Andersherum gibt es dieses Gejammere seit Menschenzeiten (gib mir die Kraft, das hinzunehmen, was ...).

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Verhätschelung und Bauchpinselei hat das Denken totgeprügelt. Betroffenheits- und Empfindsamkeitskultur sind angesagt, um sich menschlich zu geben. Die Helden von heute sind Versager und Verlierer, niedliche Teddybären, die man sich an die Brust drückt, weil man sich selbst dabei so irrsinnig gut fühlt.
... upps, ich hatte vermutet, solche Gedanken entsprechen meiner "Nachkriegserziehung" und den damaligen Heldenerzählungen. Jeder 14jährige aus Indien, Indonesien etc. ist überlebensfähiger als ein 18jähriger Deutscher ohne Smartphone - stimme ich Dir zu.
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.12.2021, 14:31   #8
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von petrucci Beitrag anzeigen
Ich schätze, du schreibst aus deiner Forenerfahrung, oder?
Auch, aber nicht nur daraus. Schon in den 70er Jahren hatte ich mit Schülerinnen die Erfahrung gemacht, dass sie nichts mehr beigebracht bekamen. Es fing damit an, dass sie merkten, englische Grammatik nicht zu verstehen. Meine Nachfragen ergaben, dass sie schon die deutsche Grammatik nicht verstanden. Also wie hätten sie die englische kapieren können?

Vom Deklinieren und Konjugieren hatten sie, die Zehnklässler Realschule (!!) nie etwas gehört. Daraufhin schrieb ich ihnen sämtliche Zeitbeugungen der Hilfsverben "sein" und "haben" auf deutsch und englich runter, auswendig, wobei den jungen Dingern beinahe die Augen aus den Höhlen fielen. Die hatten keine blanke Ahnung, dass es so etwas gab, konnten dir aber die Songtexte von Cat Stevens auswendig aufsagen und wussten, wie man Nudeln in heißem Wasser gart. Das hatte ihnen die Englischlehrerin beigebracht und sie freundlich aufgefordert, bei Geglegenheit die Vokabeln hinten im Buch zu lernen, falls sie Lust dazu hätten.

An diesem Bildungskanon hat sich seit den 70ern nichts geändert.

Was ich heute in Poetry lese, ist das Ergebnis einer fünfzigjährigen Bildungskatastrophe, und wer es noch genauer wissen will, braucht sich nur die Köpfe anzusehen, die mittlerweile Deutschland regieren.
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Alt 16.06.2022, 12:26   #9
männlich Chris1980
 
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Beiträge: 1

Mein großes Problem ist das jahrzehntelange Nichtanwenden von richtiger Schreibweise. Ich arbeite seit meinem 20 Lebensjahr in der Industrie und meine Kommunikation in schriftlicher Form lief zum großen Teil über saloppe Emails unter Kollegen, Freunden, Bekannten und über Messanger wie Whatsapp.

Meine Rechtschreibung ist im Laufe der Jahrzehnte total verkommen, ich schäme mich teilweise richtig wenn mir nach dem absenden von Emails gravierende Fehler auffallen und ich habe mittlerweile ganze große Probleme wenn ich Emails an die Geschäftsleitung schreiben muss.

Ich habe immer viel gelesen, dies hat mich einigermaßen noch in Form gehalten. Aber wenn man dann jahrzehntelang Einzeiler über sein Smartphone rausschickt und die korrekte Rechtschreibung und Grammatik komplett ignoriert kommt man einfach aus der Übung.

Der Onkel meiner Mutter würde sich im Grabe herumdrehen wenn er meine Emails lesen müsste.
Der war früher Gymnasialdirektor und hat uns Kinder bei Familientreffen immer geschulmeistert und malträtiert wenn wir falsch gesprochen haben.
Chris1980 ist offline   Mit Zitat antworten
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