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Alt 20.09.2015, 13:41   #1
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Standard Erfahrungen aus den 90ern

1991 war ich arbeitslos geworden, und nach vielen unnützen Bewerbungen kam Post aus Hessen, dass ich Deutsch für Ausländer unterrichten könne. Ich stellte mich in der Schule vor, wo das Sonderprogramm zur Eingliederung ausländischer Jugendlicher in den Arbeitsmarkt schon lief, in dem ich nun durch meine zwei kleinen Kinder als Härtefall Arbeit bekommen hatte.

Die Schüler und Schülerinnen lernten Kochen, Speisen servieren und Kleidung schneidern, sie wurden sozialpädagogisch betreut und bei mir, der zwar Fontane und Kafka kannte, aber nie Sprachunterricht gegeben hatte, lernten sie: "Ich heiße Mohammed" und "Ich komme aus Afghanistan."

Sie kamen aus Kriegsgebieten, aus Eritrea, Afghanistan, Pakistan, Sri Lanka und dem Kosovo. Sie gehörten in der Regel der höheren Gesellschaftsklasse dieser Länder an, denn nur reichere Eltern konnten das Geld für illegale Papiere und einen Flug zusammenbringen. Einer meiner Schüler aber war zu Fuß aus der Armee in Pakistan geflohen, in Russland angeschossen und inhaftiert worden, und erst ein halbes Jahr später ging es irgendwie weiter. Ich habe ihn eine Zeitlang sehr unterstützt, aber er war nicht in der Lage, zur inneren Ruhe zu finden, blieb dem Unterricht fern und verschwand irgendwann.

Die anderen zeigten meist gute Fortschritte. Sie kochten in der Schulküche Mittagessen für Schüler und Lehrer, absolvierten in Gaststätten und Hotels Praktika, servierten am Samstag zu Feiern im städtischen Rathaus. Wer schon Englisch konnte, lernte auch das Deutsche leichter. Einige machten nach einem Jahr den Hauptschulabschluss, und mehr als die Hälfte fand Arbeit.

Das Verhältnis der Schüler zu den Lehrern war emotional. Alle Schüler hatten ja Eltern und Geschwister im Krisengebiet zurückgelassen und trugen einen geheimen Schmerz unter dem Lachen. Bei Geburtstagsfeiern tanzten wir im Klassenraum, und einmal waren wir Lehrer zum Abendessen ins Flüchtlingsheim eingeladen. Die Schülerinnen kochten Speisen ihrer Heimatländer und bemutterten reihum meine Kinder. Manche begrüßten mich noch nach Jahren auf der Straße, inzwischen selbst den Kinderwagen schiebend.

Ich blieb drei Jahre in diesem Programm. In meinem letzten waren durch einen Erlass, der Gerechtigkeit vorsah, bevorzugt deutsche arbeitslose Jugendliche und junge Aussiedler in die Klassen gekommen. Nun war durch veränderte soziale Hintergründe eine andere Unterrichtssituation entstanden.

Arroganz, Arbeitsunlust und Ressentiments unter den Schülern sorgten dafür, dass das Mittagessen nicht rechtzeitig fertig wurde und plötzlich gab es dann auch keines mehr. Betriebe schickten Praktikanten zurück und weigerten sich, neue zu nehmen. Im Deutschunterricht wurde herumgeschrien, man beschimpfte sich als Russen und als Türken. Wer, wie ich, die Klassenleitung hatte, verbrachte seine Zeit damit, dem Schulamt die Ordnungswidrigkeiten für dann doch abgelehnte Schulverweise zu protokollieren.
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.09.2015, 17:39   #2
Richard L.
 
Benutzerbild von Richard L.
 
Dabei seit: 11/2014
Alter: 53
Beiträge: 1.592


Lieber gummibaum,
ein guter Bekannter ist Berufsschullehrer und berichtet mir des öfteren von den kleinen Erfolgen. Ich kann diese Arbeit nur bewundern, ehrlich! Für mich wäre das nichts, sich mit dieser respektlosen Saubande (seine Worte) herumzukriegen. Seine Aussage: "Ich mache das jetzt seit 25 Jahren und es wird immer schlimmer.." Die meisten sind unmotiviert und haben eklatant schlechtes schulisches Wissen.
LG
Richard L. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.09.2015, 19:49   #3
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Da ist was dran, Farrell. Ich unterrichte aber inzwischen Abiturienten. Das ist deutlich leichter.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
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