Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Kolumnen, Briefe und Tageseinträge

Kolumnen, Briefe und Tageseinträge Eure Essays und Glossen, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 01.08.2022, 18:07   #1
weiblich Inka
 
Benutzerbild von Inka
 
Dabei seit: 07/2021
Ort: Odenwald
Alter: 85
Beiträge: 304

Standard Der heimliche Besuch in meiner Geburtsstadt

Als uns im Herbst neunzehnhundertneunundachtzig das Angebot eines Reiseunternehmens vorlag, mussten mein Mann und ich erst die Landkarte studieren. Wo liegt Nidden / Nida in Litauen? Aha, circa hundert Kilometer von Königsberg / Kaliningrad entfernt.

Ab März neunzehnhundertneunzig wurde die Sache etwas wackelig, da man in Litauen rebellierte und die Autonomie anstrebte. Ende April beruhigte uns das Reiseunternehmen mit einem Schreiben. In Nidden freute man sich auf unser Kommen. Wir waren die ersten deutschen Gäste, die nur in Privatquartieren aufgenommen werden konnten. Ein Arztehepaar war unser Gastgeber.

Erster August neunzehnhundertneunzig – zehn Uhr Abfahrt in Nidden - nach Königsberg. An der litauisch-russischen Grenze ging alles gut, denn immerhin war es zu dem Zeitpunkt offiziell den deutschen Touristen noch nicht erlaubt, Königsberg zu besuchen. Komischerweise ließ man die litauischen Busse unbehelligt durch? Am letzten Tag klärte man uns auf, dass die Grenzbeamten vom Chef des Reisebüros bestochen wurden.

Es wurde vereinbart, in Königsberg an vier verschiedenen Stellen die Leute abzusetzen und zu bestimmten Uhrzeiten wieder abzuholen. Mein Mann Karli und ich stiegen als erste am Hauptbahnhof aus. Nur von diesem Punkt aus konnte ich mich orientieren. Etwas mulmig war uns schon. Vor allem befürchteten wir, wegen der Videokamera aufzufallen.

Einen Tag vor unserer Reise hatte ich den Ausschnitt unseres Stadtviertels in K. fotokopieren und vergrößern lassen. Darüber waren zum Teil die russischen Straßennamen vermerkt.

Nun ging die Suche nach der Blücherstraße, in der ich früher wohnte, los. Karli sagte immer: zähl doch die Querstraßen, aber das brachte nichts. Ich versuchte, die kyrillischen Buchstaben zu entziffern. Orientierte mich an dem Katharinen-Krankenhaus, das früher an der Ecke unserer Straße stand, aber das existierte nicht mehr. Die Katholische Kirche dahinter stand noch, jetzt als „Philharmonie“ umfunktioniert, in der heute regelmäßig Konzerte stattfinden.

Zunächst sprachen wir eine junge Frau mit Kind an und fragten nach der „Krasnoarmejskaja“ - wörtlich übersetzt: Rote-Armee-Straße. Sie kannte sich nicht aus.

In Richtung Unterhaberberg entdeckten wir in der Ferne einen großen Schornstein. Das musste „Caille & Lebelt“ sein, die Reinigung und Färberei, in der meine Mutter fünfundzwanzig Jahre lang gearbeitet hatte. Dahinter der Fluss Pregel. Wie freute ich mich, dass die Fabrik noch stand. Die steuerten wir zuerst an.

Später trafen wir auf eine ältere Frau, die uns bis zur nächsten Straßenecke begleitete und auf die rosafarbenen Häuser in unserer ehemaligen Straße wies. Anfangs trauten wir uns fast nicht, aufzublicken, vor lauter Angst, man könnte uns ansehen, dass wir Deutsche sind. Später waren wir etwas mutiger. Nur vermieden wir es, Leute in größeren Gruppen anzusprechen.

Die Blücherstraße war also nun ganz anders, kein einziges Haus aus unserer Zeit existierte. Keine Vorder- und Hinterhäuser mehr und die Straße war schmäler. Alles Neubauten, in der Mitte ein breiter Gürtel mit Bäumen und Büschen.

Vorher malte ich mir aus, falls unser Haus noch stehen würde, ich versuchen könnte, in unsere Wohnung zu kommen. Eigens dafür hatte ich einige Sätze von meiner Russischlehrerin an der VHS übersetzen lassen, da ich noch nicht so viele Russischkenntnisse besaß, aber leider war nun alles ganz anders.

Unser nächstes Ziel waren die Parkanlagen. Ich musste dringend zur Toilette, aber wohin? Einer Frau folgte ich ins Haus und sie verstand. Der Familie zeigte ich meine vorgefertigten russischen Sätze, mit denen ich erklärte, dass ich in dieser Stadt geboren wurde und sie ein Jahr vor Kriegsende mit meinen zwei Geschwistern, der Mutter und Oma verlassen musste. Ich spürte keine Abneigung, eher etwas Ratlosigkeit oder Mitleid, wenn man es so deuten konnte?

In der Nähe des Oberhaberberges fanden wir die Parkanlagen sofort. Es gab verschiedene Teiche. Der erste war sehr verschmutzt, der Rasen nicht gepflegt, alles ziemlich verwildert. Ich konnte mich nicht erinnern, an welchen Plätzen ich früher als Kind war.

Im Park fühlten wir uns etwas sicherer. Keiner beachtete uns. Es kam höchstens mal eine junge Mutter mit dem Kinderwagen vorbei oder man sah eine Babuschka auf der Bank sitzend.

Wir packten unsere Lunchpakete aus und dann wurde Heimaterde „geklaut“. Eine kleine Plastiktüte hatte ich mir eigens dafür mitgenommen. Karli kratzte mit dem Taschenmesser die Erde locker. Ich schippte mit meinem Taschenspiegel diese in die Tüte. Dachte an alle ehemaligen Königsberger, die ich kenne und hoffte, ihnen damit eine kleine Freude bereiten zu können.

Später kamen junge Burschen vorbei, die die Videokamera betrachteten und bewundernde Laute von sich gaben. Eine Zeitlang trottete ein Russe hinter mir her, der immerzu quasselte. Ich drehte mich nicht um, tat nicht dergleichen, da ich auch nichts verstand. Der bog dann zum Glück ab. Karli meinte, er wollte vielleicht mit mir anbandeln. Der Tonfall klang nicht danach.

Unterwegs entdeckten wir einen Kiosk und beschlossen, Ansichtskarten zu kaufen. Die Kioskbesitzerin schimpfte gerade hinter einem etwa zwölfjährigen Jungen her und drohte mit der Faust. Vielleicht hatte er versucht, etwas zu stehlen? Sie war ziemlich aufgebracht und wir verstanden nur das Wort Milizia.

Und nun kamen wir. Wie würde sie reagieren, wenn sie eventuell merkt, dass wir Deutsche sind? Sie guckte zwar etwas komisch, sagte aber nichts. Wir deuteten nur mit den Fingern auf die Karten, die wir haben wollten.

Um sechzehn Uhr sollten wir am Treffpunkt Hauptbahnhof sein, hatten aber noch über eine Stunde Zeit. Auf einer Bank gegenüber des Bahnhofes nahmen wir Platz und beobachteten das rege Treiben. Unweit stand ein großes Monument – Kalinin – nach dem die Stadt benannt wurde.

Bei den Lunchpaketen war auch Schokolade dabei. Da sich um uns herum viele Spatzen tummelten, versüßten wir ihnen damit das kurze Leben. Karli wollte gerade noch eine Taube mit aufnehmen, als ein Polizist vorbeikam und sie ungewollt aufscheuchte. An seiner Gestik und an seinem Lachen verstanden wir, dass er sich quasi dafür entschuldigte, dass er beim Filmen gestört hatte. Rechts neben dem Bahnhof stand noch die alte Post, die auch heute noch ihrem Zweck dient. Etwas weiter rechts entdeckten wir noch eine Mauer und das Brandenburgische Tor.

Herr K. der alles organisiert hatte, wer wo und wann aussteigt, und seine Frau, wollten eigentlich zu verabredeter Zeit auf den „Hufen“ sein, aber die Beiden waren nicht zu sehen. So ließ man die Reiseleiterin Danute und einen Herrn von der Gruppe an dem vereinbarten Treffpunkt zurück. Sie stellten sich auf beide Straßenseiten und passten auf. Inzwischen wurden Karli und ich am Bahnhof abgeholt.

Das betagte Ehepaar K. war dann aber immer noch nicht da. War etwas passiert oder hatten sie sich wegen der Zeitverschiebung vertan und die Uhr zurückgestellt? So war es auch. Die Reiseleiterinnen waren schon ziemlich nervös. Danute fragte in die Runde: was würden die Deutschen in so einer Situation tun? Meine Antwort: ich würde zur Polizei gehen und alle Krankenhäuser anrufen lassen. Sie suchten zuerst nach den Krankenhäusern im Telefonbuch und riefen später noch bei der Miliz an. Die wunderten sich: wieso, hier dürfen doch gar keine Deutschen sein? Danute sagte dann schnell: ach, es hat sich erledigt, ich sehe sie schon kommen.

Der Busfahrer wollte gerade losfahren, hatte den Motor schon angeworfen, als Karli die Beiden auf der anderen Straßenseite zufällig im Menschengewühl entdeckte. Dem Ehepaar war das natürlich sehr peinlich, aber wir hatten uns alle Sorgen gemacht. Einmal wären sie wohl schon da gewesen, aber der Bus nicht. An der Grenze hatten wir noch ein bisschen Bammel. Es hätte die Königsberger Miliz dort anrufen können, aber zum Glück nicht.

Bei unserem ersten Besuch in Königsberg waren wir noch ziemlich ängstlich. Beim zweiten, drei Tage später mit unseren litauischen Gastgebern – per Auto - fühlten wir uns sicherer. Diese zeigten uns etwas mehr von K. Bei der Domruine nahm ich mir von dem Schutthaufen ein großes Stück Ziegel als Andenken mit.

Unser letzter Besuch in Königsberg / Kaliningrad war im Jahre zweitausendzwei und wir konnten den inzwischen wieder aufgebauten Dom besichtigen.
Inka ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 01.08.2022, 18:21   #2
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076

Sorry, Inka, aber um einen Leser für deine Geschichte zu interessieren, ist sie zu müde aufgezogen. Ich hätte so begonnen:

In Litauen herrschte Aufruhr. Trotzdem, oder gerade deshalb, wollte ich zurück in dieses Land, das mir lieb und teuer war, denn dort wurde ich geboren ...
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.08.2022, 18:42   #3
weiblich Inka
 
Benutzerbild von Inka
 
Dabei seit: 07/2021
Ort: Odenwald
Alter: 85
Beiträge: 304

Liebe Ilka-Maria,

ich wurde nicht in Litauen geboren, sondern in Königsberg / Ostpreußen. Das war ja der Hauptgrund und Hintergedanke, dass wir diese Reise nach Nidden buchten, weil wir natürlich hofften, von dort aus - endlich - nach K. kommen zu können.

Übrigens gefiel uns Nidden so gut, dass wir bis 2004 mehrmals - und immer bei derselben Arztfamilie, mit der wir bis heute Kontakt haben, - unseren Urlaub dort verbrachten. Unsere Kinder und Enkel luden wir jeweils auch mal zu einem Urlaub in Nidden ein.

LG von Inka
Inka ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2022, 02:01   #4
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076

Zitat:
Zitat von Inka Beitrag anzeigen
ich wurde nicht in Litauen geboren, sondern in Königsberg / Ostpreußen.
Das ist doch egal, Inka. Es geht darum, den Leser mit einem interessanten ersten Satz zu ködern. Ich wollte dazu nur ein Beispiel liefern.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.09.2022, 19:43   #5
weiblich Inka
 
Benutzerbild von Inka
 
Dabei seit: 07/2021
Ort: Odenwald
Alter: 85
Beiträge: 304

Liebe Ilka-Maria,

übrigens noch ein besonderes Dankeschön für den Köder-Tipp, muss ich mir merken. (Bin eben noch nicht mit allen Wassern gewaschen – haha.) Ich hatte mal eine reißerische Überschrift gewählt: Ich liebe zwei Männer - was mag man wohl dahinter vermutet haben? Vielleicht folgten lange Gesichter?

Nachdem ich diesen Beitrag gepostet hatte, beschäftigte und schlauchte mich längere Zeit alles sehr. Musste daran denken, dass wir auch meiner Mutter (geb. 1903) zuliebe Königsberg besuchten, filmten und fotografierten. Sie durfte sich dann alles anschauen. Mein Bruder hatte ihr einen Videorecorder geschenkt, als sie 1987 aus der DDR zu uns übersiedelte – in eine eigene Wohnung.

Liebe Grüße von Inka

P.S. Geschichtsunterricht möchte ich nicht erteilen, wusste bis etwa 1986, als ich mich einer Gruppe anschloss, so gut wie nichts über mein Heimatland. In der DDR war das Thema total tabu. Man wurde sogar angepfiffen, wenn man das Wort „Russland“ in den Mund nahm. Es heißt: Sowjetunion.
Inka ist gerade online   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der heimliche Besuch in meiner Geburtsstadt

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Der heimliche Finger MiauKuh Humorvolles und Verborgenes 2 19.11.2017 18:03
Heimliche Gelüste Schwark Humorvolles und Verborgenes 0 06.07.2014 10:54
Heimliche Amouren Jenno Casali Liebe, Romantik und Leidenschaft 4 27.05.2014 13:40
Heimliche Liebe hopi Liebe, Romantik und Leidenschaft 3 22.03.2013 19:33
Heimliche Liebe Wolke7 Liebe, Romantik und Leidenschaft 1 07.04.2009 21:07


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.