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Alt 16.06.2022, 20:03   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Albrecht

Im Sommer, wenn die Temperaturen freundlich waren, stand Albrecht jeden Morgen um neun Uhr an der zur Einkaufsstraße offenen Theke des Bäckers „Max & Moritz“, um aus einer Plastiktasse seinen Kaffee zu schlürfen, und es gab immer noch Passanten, die sich darüber wunderten, dass er außer einer Badehose nichts am Leibe trug. „Ist das der Kaiser?“, fragte ein kleines Mädchen seine Mutter, das ihm einen Tag zuvor das Märchen vom Kaiser ohne Kleider aus dem Buch der Brüder Grimm vorgelesen hatte. „Nein“, antwortete die Mutter. „Das ist der Albrecht, der am Fluss wohnt.“

Albrecht gehörte zum Stadtbild wie die Läden, die auf „-mann“ enden: Fielmann, Deichmann, Rossmann. Niemand wusste, wovon sich dieser knorrige, dürre Mann, den man immer nur Kaffee trinken, aber nie etwas essen sah, am Leben erhielt. Die Stadt hatte ihm für das Boot, auf dem er hauste, eine kostenlose Anlegestelle erlaubt, und damit war sie allen anderen Sorgen für ihn entledigt.

Im Winter ließ er sich seltener in der Innenstadt blicken, und dann war er, barfuß wie immer und bis auf die Badehose nackt, in eine Wolldecke gehüllt, die ihn vor der Kälte schützte. An der Uferstelle, wo sein Boot vertäut war, häuften sich die Kleiderspenden, aber er trug die Säcke ungeöffnet fort und warf sie in die Kleidercontainer, die überall in der Stadt aufgestellt waren.

Er war nicht bedürftig, wie die Leute glaubten, sondern er lebte so, wie er leben wollte, frei und unbeeinflusst, unkonventionell und niemandem Rechenschaft schuldig. Nie sah man ihn Zigaretten rauchen oder Alkohol trinken, aber oft in der öffentlichen Bibliothek in ein Buch vertieft. Auch im Lesesaal trug er nur seine Badehose und schämte sich nicht seiner behaarten Brust. Aber niemand nahm daran Anstoß, denn seine baren Füße waren gepflegt, seine Fingernägel sauber und seine schulterlangen Haare von seidigem Glanz.

Manchmal wurde er angesprochen, und im Verlauf des Gesprächs wurde klar, dass er kein Dummer war. Seine Gesprächspartner, die sich einen Spaß mit ihm machen wollten, erlebten sich verwirrt, weil sie mit ihrem Latein schnell am Ende waren. „Einem Penner, der so viel draufhat wie der, bin ich noch nie begegnet. Der hat mir mit drei Worten mein ganzes Weltgebäude plattgemacht!“

Susanna liebte Albrecht und brachte ihm regelmäßig eine Schüssel mit frischgekochtem Gemüseeintopf vorbei. „Du hast mich gerettet, und dafür bin ich dir ewig dankbar. Was wäre ohne dich aus mir geworden?“

„Ach ja, dein Fuß“, erinnerte sich Albrecht und schmunzelte. „Damals sagte ich dir, er sei stark genug, deinem Mann einen kräftigen Tritt in den Arsch zu geben.“

Und beide lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Susanna kam gerne auf das Boot, denn das sanfte Schaukeln auf den Wellen, die sich an der Ufermauer brachen, löste sie von der Hektik des Alltags und brachte ihr inneren Frieden.

Albrecht war den Leuten in der Stadt ein Rätsel. „Wie macht er das, so leben zu können?“

„Auf Stütze“, mutmaßten die einen, „reich geerbt, der kann’s sich halt leisten“, mutmaßten die anderen.

Als Albrecht vor seinem knapp achtzigsten Lebensjahr verstarb, fand man im Rumpf seines Bootes alles sauber und geordnet vor und in seinem Regal vier Bücher: die Bibel, Defoes „Robinson Crusoe“, Orwells „1984“ und Huxleys „Brave New World“.
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.06.2022, 06:59   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.711


Liebe Ilka,

eine sehr hübsche Geschichte! Passt zum Sommer mit soviel Leichtigkeit geschrieben und einem überraschenden Schluss.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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