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Alt 15.06.2022, 14:30   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Käsekuchen

Richard steckte den Kopf durch den Spalt der Tür zu Birgits Büro. „Zeit, die Segel zu streichen, Madam.“ Sie schaute auf ihre Armbanduhr. „Herrjeh, ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell der Nachmittag vergangen ist.“

„Noch Bock auf einen Absacker bei Henry’s? Ich bin in Ausgeb-Laune.“

Sie lachte. „Das bist du doch immer. Okay, aber nur für ein halbes Stündchen. Ich räume kurz hier auf und komme dann bei dir vorbei.“

Er schloss die Tür. Ein halbes Stündchen … immerhin. Besser diese Chance als gar keine.

Birgit bestellte Weißwein, Richard ein Bier und einen doppelten Cognac. Er war vernarrt in die hübsche, Lebensfreude ausstrahlende Frau, die mit Esprit und Warmherzigkeit die Kollegen einnahm und in dem Unternehmen eine angenehme Atmosphäre verbreitete. Und doch umgab sie zuweilen eine Aura von Traurigkeit, der Richard auf die Spur zu kommen trachtete.

„Entschuldige“, sagte sie, als ihr Mobilphone einen Anrufer meldete. „Ja? … Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. … In einer knappen Stunde. … Ja, ja, ich beeile mich.“

Jetzt ist aus dem halben Stündchen eine knappe Stunde geworden, und das gefiel Richard. „Dein Mann?“

Birgit nickte. „Er mag es nicht, in die Wohnung zu kommen, wenn ich nicht da bin. Ohne mich fühlt er sich nicht zu Hause.“

Seine Umwelt ist ihm egal, Hauptsache, er hängt immer noch an der Mutterbrust wie ein Säugling, dachte Richard. „Bist du mit ihm glücklich?“

Birgit wirkte irritiert. „Wie meinst du das?“

„Na, ist dein Leben mit ihm so, wie du es dir vorgestellt hattest, als du ihm das Ja-Wort gabst.“

„Wessen Leben verläuft schon so, wie er es sich vorgestellt hat?“, wich Birgit ihm aus. „Das gibt es doch gar nicht.“

„Also bist du enttäuscht von dem Paket mit dem hübschen Schleifchen?“

„Du sprichst in Rätseln“, schlich Birgit weiter um den heißen Brei herum und winkte der Bedienung, noch ein Glas Wein zu bringen. Richard sah es mit Genugtuung, denn Alkohol löst bekanntlich die Zunge.

„Ich kenne dich seit vier Jahren, Birgit, und ich war Gast bei deiner Hochzeit. Ich will Jürgen nicht schlechtreden, aber auch nicht besserreden, als er ist. Er ist ein guter Kerl, aber du bist ihm haushoch überlegen. Du musst dich kolossal mit ihm langweilen.“

„Er ist zuverlässig und immer für mich da. Wenn ich dagegen meine Freundinnen sehe, wie eine nach der anderen betrogen wird …“

„Vergiss deine Freundinnen. Es geht um dich. Nochmal meine Frage: Bist du glücklich?“

Sie schlug die Augen nieder und antwortete nicht, was Richard deutlich genug war. Doch bevor er weiter vorstoßen konnte, hob sie den Kopf und zischte ihn an. „Worauf willst du hinaus, Richard? Suchst du jemanden zum Flachlegen und grast die Landschaft nach frustrierten Ehefrauen ab? Glaubst du, bei mir die Kerbe gefunden zu haben, in die du einrasten kannst.“

Richard atmete durch. „Ich suche gar nichts, Birgit. Ich habe dich gern, um es harmlos auszudrücken. Ich will dir auch nicht Jürgen ausreden, der zweifellos seine Qualitäten hat, und ich bin nicht der Mensch, der sich in Ehen drängt und sie spaltet. Aber nicht jeder Mensch will jeden Tag Käsekuchen essen.“

„Sondern?“

„Es darf auch mal Obstkuchen mit Sahne sein, eine Schwarzwälder, Streuselkuchen, Nuss-Sahne, Schoko-Sahne, Crèmetorte, Frankfurter Kranz, Pflaumenkuchen oder Bienenstich.“

„Ach so! Zu Hause gibt es jeden Nachmittag Käsekuchen, aber für die anderen Leckereien geht man ins Café. Vor allem für Bienenstich.“

Richards Miene hellte sich auf. „So ungefähr.“

„Aber Käsekuchen ist nicht gleich Käsekuchen“, konterte Birgit. „Ich kann ihm zur Abwechslung Kirschen oder Rosinen beimischen, ich kann ihm mit Rum eine aromatische Note verleihen oder ihn statt mit Kaffee mit heißer Schokolade genießen. Das geht nur zu Hause, das bekommst du nicht in jedem Café.“

Und wieder das Mobilphone. „Ja? … Ich bin hier gleich fertig … in zehn Minuten. … Bis gleich, Schatz.“

Sie erhob sich. „Danke für die Einladung, Richard. War ein netter Versuch, aber für mich noch zu früh. Wir sehen uns morgen im Büro.“

Und schon schwebte sie davon.

Richard sah ihr zufrieden hinterher. Er wusste, dass er sie an der Angel hatte und es nur eine Frage der Zeit war, wann er den Haken aus dem Wasser ziehen musste. Sonst wäre sie nicht mit ihm zu Henry’s gegangen und schon gar nicht hätte sie sich mit dem Satz verabschiedet: „Wir sehen uns morgen im Büro.“

Sie glaubte, ihn so sicher zu haben wie ihren Ehemann, nur an einem anderen Tisch. Aber wer will sein Leben lang jeden Tag Käsekuchen essen?
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