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Alt 31.10.2022, 21:50   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Marlitt

Die Freundschaft zwischen Marlitt und mir begann an einem heißen Sommertag, genau gesagt an einem ersten Juli in einem Großhandel für Heizungsbedarf, an dem ich eine neue Stelle als Sekretärin für den Firmenleiter antrat. Am selben Tag hatten Straßenbauarbeiter damit begonnen, mit schwerem und ohrenbetäubend lautem Gerät die Bundesstraße vor dem Firmengebäude aufzureißen mit dem Ziel, sie auf vier Spuren zu erweitern, da sie für den einzig vorhandenen Durchgangsverkehr von Frankfurt über Offenbach nach Hanau völlig überlastet war.

Ich kam zu meinem Einstand in einem Winterkleid, langärmelig und bis zum Hals geschlossen, mit einer roten Nase und mit hämmernden Kopfschmerzen, denn ich war auf dem Gipfel einer Sommererkältung angekommen, hatte mich aber gescheut, schon am ersten Tag mittels einer Krankmeldung zu kneifen. Mein erster Eindruck war mich wichtig. Von dem Radau auf der Straße war ich jedoch völlig überrascht und fand es unfair, dass man mich darauf nicht vorbereitet hatte. Als mein Boss und meine neuen Kollegen mich in meinem ramponierten Zustand sahen, flossen sie vor Mitgefühl über, denn sie konnten sich vorstellen, was mein ohnehin dicker Kopf auszuhalten hatte.

Ein bisschen in der Märtyrerrolle zu stecken hatte aber auch Vorteile. Ich wurde hofiert wie eine Prinzessin, mit äußerster Liebenswürdigkeit in die Arbeitsvorgänge des Unternehmens eingeführt und bekam, als ich über alles Bescheid wusste, ein fürstliches Sekretariatszimmer im ersten Stock mit angrenzender Einbauküche.

Marlitt hatte ihren Arbeitsplatz im Parterre und war Mädchen für alles. Mal arbeitete sie der Buchhaltung zu, mal machte sie Telefonvertretung. Sie war vier Jahre Jünger als ich, aber bereits verheiratet und hatte einen Sohn im Kindergartenalter.

Sie war lebenslustig und laut, um nicht zu sagen: vorlaut, also der Typ, der losplappert und erst dann über die rausgespuckten Worte nachdenkt. So platzte es mal, als unser Firmenleiter im braunen Anzug und mit einer knallroten Krawatte auf weißem Hemd ins Haus kam, aus ihr heraus: "Heidi, heida, die Feuerwehr ist da!" Das kam nicht gut an, aber im Krötenschlucken und die Ohren auf Durchzug zu stellen war unser Boss souverän. Er verzog keine Miene und ging zur Tagesordnung über.

Meine spröde, zurückhaltende Art schien Marlitt zu reizen, denn sie suchte oft das Gespräch mit mir, erzählte mir aus ihrem Privatleben und wie sie das Wochenende mit ihrer Familie verbracht hatte. Einmal brauchte sie eine halbe Stunde, bis sie mir den Film "Der Pate" mit Marlon Brando, damals taufrisch ins Kino gekommen, mit Begeisterung in allen Details geschildert hatte. Aber so richtig warm wurden wir noch nicht.

Das änderte sich, als ich schwanger wurde und Alexander und ich zu heiraten beschlossen. Marlitt schenkte mir den ersten Strampler für mein Baby, und sie brachte mir bei, wie man aus Grandma-Vierecken eine Babydecke für den Kinderwagen häkelte. Sie liebte Handarbeiten. Da war klar, dass die Tage meiner beruflichen Tätigkeit gezählt waren. Marlitts Zeit im Beruf allerdings auch.

Der Knackpunkt, der zur Aufgabe ihres Jobs führte, war der Anblick ihres Sohnes auf der Fensterbank im dritten Stock. Ihre Wohnung befand sich nämlich gegenüber unserem Heizungsgroßhandel, und als sie eines späten Vormittags zum Fenster hinaussah, sah sie Klein-Wolfram, wie er auf der Fensterbank saß und die Beine außen baumeln ließ. Wie von Thor mit dem Hammer gejagt rannte sie hinüber, betrat leise die Wohnung, um ihren Sohn nicht zu erschrecken, und riss ihn vom Fensterbrett.

Es hatte keinen Sinn, ihrem Mann, der tief und fest schlief, Vorhaltungen zu machen. Herbert war Koch, hatte Spätdienst und kam erst morgens zwischen drei und vier Uhr nach Hause. Völlig klar, dass er bis zum Mittag schlief. Und deshalb kündigte Marlitt und blieb von da an bei ihrem Kind.

Allmählich wuchs unsere Freundschaft zusammen, und als Klein-Wolfram eingeschult und mein Sohn im Kindergarten war, sahen wir uns fast täglich. Ihre Telefonnummer habe ich noch heute im Kopf. Wir wohnten nicht weit voneinander entfernt, nur fünf Gehminuten. Alexander und ich hatte uns nämlich in dem Ort niedergelassen, wo ich damals noch im Großhandel arbeitete. Von dort hatte er es nicht weit zum Bahnhof, um den Zug nach Frankfurt zu nehmen, wo er seine Stelle hatte. Es war ideal.

Meistens rief mich Marlitt an. "Komm doch rüber. Bin am Putzen, aber eine kleine Pause …"

Sie hatte ihre Rituale. Wenn sie mich im Morgenmantel empfing, schenkte sie mir ein Glas Wein ein oder eine "Kuhmilch". Das war eine weiße, alkoholstarke Flüssigkeit, deren Zusammensetzung ich nie näher hinterfragt hatte. Dann entschuldigte sie sich. Sie sei schon geduscht, müsse sich aber anziehen. Das dauerte meistens nur fünf Minuten, dann saßen wir wieder beisammen, sie in einem hübschen Kleid, über das sie klagte, dass es Herbert nicht gefiel. Und wir plauderten weiter. Aber schnell wurde Marlitt wieder kribbelig. "Ich verschwinde nochmal ins Badezimmer. Bin gleich wieder da."

Es dauerte wieder nur wenige Minuten. Dann hatte sie Lidschatten aufgelegt und sich die Wimpern getuscht. "So," sagte sie zufrieden und nippte weiter an ihrem Wein, "jetzt bin ich angezogen."

Sie rauchte. Seit ihrem zwölften Lebensjahr.

Wir unterhielten uns viel über die Themen der Zeit, und da ging es auch um Erotik und Homosexualität. Ihre Ansichten waren in puncto Homosexualität liberal, also was Schwule betraf, aber nicht gegenüber lesbischen Beziehungen. Mir waren alle sexuellen Vorlieben und Beziehungen egal, aber als ich einmal über eine Frau äußerte, sie attraktiv zu finden, unterstellte mir Marlitt "auf der Kippe zu stehen".

Weil ich mir viel ernste Gedanken über die Welt, über die Menschen und ihr Beziehungen zueinander machte, unterstellte mir Marlitt auch, Depressionen oder sogar schlimmeren psychischen Attacken ein offenes Feld zu bieten. Aber dann erwischte es sie selbst.

Es begann nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Ein Wunschkind. Geplant und gesund zur Welt gekommen. Marlitt überkamen Angstattacken. Ihr blieb die Luft weg. Natürlich nie ganz, sonst wäre sie gestorben. Aber lange genug, um ihr Angst zu machen, bei nächsten Mal zu sterben. Sie bekam Angst vor der Angst. Dann rief sie mich an. "Kannst du kommen?"

Klar konnte ich kommen. Auch mit nassen, gerade gewaschen Haaren. Marlitt lag da und zitterte an ganzem Leib., ohne zu wissen, weshalb.

Man verschrieb ihr eine Therapie beim Psychotherapeuten. Die Warteliste betrug zwei Jahre. Sie kam aber früher dran. Der Shrink verlangte von ihr, sie solle sich ausziehen. Sie verstand den Zweck nicht und sagte nein. Da setzte er sie vor die Tür.

Marlitt war wieder auf uns angewiesen, auf Herbert und mich. Aber sie besann sich auf ihr Wurzeln und beschloss, wieder zurückzugehen, woher sie gekommen war, nämlich in ihren Heimartort. Dort wollte sie zur Ruhe kommen. Ich besuchte sie dort ein paar Mal. Und die Angstattacken schien sie überwunden zu haben.

Mit der Zeit verlor ich sie aus den Augen.

Erst Jahre später erfuhr ich über ein Internetmedium von ihrem Schicksal. Dort machte ich Herbert ausfindig, schrieb ihn an und richtete Grüße an Marlitt aus. Die Antwort. "Danke. Schön von dir zu hören. Aber Marlitt kann ich deine Grüße nicht mehr ausrichten. Wenn du willst, ruf mich an."

Er hinterließ seine Telefonnummer, und natürlich rief ich ihn an. "Was ist passiert?"

"Marlitt ist an Lungenkrebs gestorben. Aber sie hat sich nicht unterkriegen lassen. Sie hat die Chemos gut durchgestanden, sich nie beklagt und Timos Hochzeit noch organisiert. Und sie ist friedlich eingeschlafen."

Sie war nicht älter als dreiundfünfzig Jahre alt geworden. Sie war frühreif, hatte früh Sex, war früh, viel zu früh schwanger geworden, hatte mit zwölf Jahren angefangen zu rauchen, hatte immer gegen Übergewicht gekämpft und war im Grund ein Albtraum jeder Mutter, die eine "anständige" Tochter haben wollte.

Und trotzdem habe ich Marlitt als einen bodenständigen und konservativen Menschen kennengelernt, als verantwortungsbewusst, zuverlässig und vertrauenswürdig. Aber auch als einen Menschen, der das Leben bis an die Grenzen ausprobiert hat.

Ihr Leben war kurz, aber intensiv. Sie hat es gelebt.

Ich erinnere mich, wie sie einmal zu mir sagte: "Mich interessiert nicht, was gestern war, und mich interessiert die Zukunft nicht. Ich lebe heute, und nur im Heute. Jetzt. Und nirgendwo sonst."
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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