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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 14.05.2021, 08:05   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard Beschwert euch nicht

gestern habe ich herrn müller der über mir wohnt getroffen
er wurde in der fußgängerzone von ein paar radioleuten für eine umfrage interviewt
was er denn zu der krise und den einschränkungen sagen würde
herr müller musste mit dem mikrofon unter der nase erst einmal überlegen was er sagen sollte aber die radioleute wollten ja etwas hören
also fiel ihm ein dass sein enkel auch dieses
jahr nicht auf dem karrussell fahren kann weil die kirmes zum zweiten mal ausfällt
herr müller fragte mich ob es richtig gewesen wäre das zu sagen
ich weiß nicht sagte ich über so etwas darf man sich vielleicht nicht beschweren uns geht es doch gut das darf man nicht vergessen und so wichtig ist kirmes und karrussellfahren ja wirklich nicht
nein sagte herr müller da habe ich wohl unsinn geredet aber jetzt entschuldigen sie mich ich muss noch etwas erledigen ich habe zwei patenkinder in afrika ein junge und ein mädchen und ich wollte noch zur bank den monatlichen beitrag erhöhen
das ist sehr nett herr müller sagte ich und vielleicht findet die kirmes ja nächstes Jahr wieder statt
wir verabschiedeten uns und am nächsten tag las ich in der zeitung über die umfrage einen artikel und am übernächsten tag einen grimmigen leserbrief der schreiber war schockiert über leute die keine anderen sorgen haben in der pandemie als dass ihr enkel nicht karrussellfahren kann
am tag darauf erschien ein brief von herrn müller es tue ihm leid sich darüber beklagt zu haben natürlich wolle er sich nicht beschweren es sei ihm nur so als erstes eingefallen
seine beiden patenkinder erwähnte er nicht wozu auch das hätte ja niemand interessiert die leute interessieren sich nur für offensichtliches und worüber sie sich empören können
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Alt 14.05.2021, 21:13   #2
Stachel
 
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Beiträge: 954

Der Text gefällt mir gut. Er bringt eine überraschende Wendung zu einer Strophe meines Gedichts. Prosa vermag Dinge so viel ausführlicher zu behandeln.
Schwarz und Weiß sind nur Randerscheinungen. Das echte Leben ist bunt mit vielen Grauschattierungen.

Ich bin fast versucht zu sagen: Früher war alles besser! Damals war ein Wort noch ein Wort. Einst konnte man noch Unsinn reden und am nächsten Tage war alles vergessen. Heute lauern überall Mikrofone, die uns im unpassendsten Moment unsere Seele stehlen. Das ist besonders tragisch, weil wir doch eine große Zeit des Tages ziemlich viel Quatsch und unüberlegtes Zeug von uns geben.

So ging es auch Herrn Müller. Kaum hat er ein Mikrofon unter der Nase, fühlt er sich überrumpelt. Ich kann das sehr gut nachempfinden. Du hast das sehr lebensnah und plausibel beschrieben, liebe Silbermöwe.

Was mich einzig etwas stutzig gemacht hat, war das Ende. Es erscheint mir dann doch etwas verquer, dass er als Spontanreaktion über den Enkel und das Karussell berichtet, aber nicht über die ihm doch wesentlich wichtigeren Patenkinder. Und zwar deswegen nicht, weil das angeblich nicht wichtig für die Hörer gewesen wäre. Eine Entscheidung mit solch einer Begründung lässt eben nicht auf Spontaneität schließen, sondern auf reifliches Abwägen.
Aber vielleicht ist es auch eher seine nachträgliche Rationalisierung der für ihn als dumm empfundenen Situation.

Ich habe deinen Text mit Gewinn gelesen. Vielen Dank dafür!

Freundliche Grüße von
Stachel
Stachel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.05.2021, 12:05   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
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Alter: 60
Beiträge: 6.703

Zitat:
. Ich habe deinen Text mit Gewinn gelesen. Vielen Dank dafür!
Hallo Stachel,

das freut mich! Ich hatte übrigens schon, als ich die erste Strophe deines Gedichtes gelesen hatte, den Mann vor Augen, der irritiert durch das Mikrofon nicht weiß, was er sagen soll.

Zitat:
Was mich einzig etwas stutzig gemacht hat, war das Ende. Es erscheint mir dann doch etwas verquer, dass er als Spontanreaktion über den Enkel und das Karussell berichtet, aber nicht über die ihm doch wesentlich wichtigeren Patenkinder. Und zwar deswegen nicht, weil das angeblich nicht wichtig für die Hörer gewesen wäre. Eine Entscheidung mit solch einer Begründung lässt eben nicht auf Spontaneität schließen, sondern auf reifliches Abwägen.
Aber vielleicht ist es auch eher seine nachträgliche Rationalisierung der für ihn als dumm empfundenen Situation.
Im Leserbrief hat er die Patenkinder nicht erwähnt, weil er sich nicht hervortun wollte. Manche Menschen wollen gute Taten nicht an die große Glocke hängen, und das in einem Brief an die Zeitung zu schreiben, der ja abgedruckt wird und damit jede Menge Leser erreicht, ist etwas anderes, als das gegenüber einer Nachbarin auf der Straße zu erwähnen. Außerdem hat man beim Schreiben eines Briefes, auf den keiner wartet, jede Menge Zeit zum Überlegen. Im Gegensatz zu einem Interview auf der Straße, wo die Interviewer auf eine schnelle Antwort gespannt sind.

Und jetzt beginnt natürlich meine Fantasie zu laufen: Vielleicht hätte Herr Müller, wenn er seine Unterstützung im Leserbrief erwähnt hätte, dann auch Bettelbriefe erhalten, `a la "Ich weiß, dass Sie Patenkinder unterstützen und ein guter Mensch sein müssen. Auch ich lebe von der Hand in den Mund und muss mich um zwei Kinder kümmern. Können Sie uns nicht auch etwas zukommen lassen?" Das hat natürlich mit dem Text hier nicht mehr viel zu tun. Ich habe nur weitergesponnen, wie das ausgehen könnte.

Ich glaube, ich mache eine Geschichte daraus Danke für die Inspiration!

LG DieSilbermöwe

Geändert von DieSilbermöwe (15.05.2021 um 14:16 Uhr)
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