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Alt 12.10.2014, 11:06   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Gespräch mit Liebergott über das Warten

Die Angst machte sie nicht mehr halbwahnsinnig wie noch vor einigen Monaten. Wenn damals der Briefträger geklingelt und ihr die Post übergeben hatte, galt ihr erster Blick der Farbe der Briefumschläge und den Stempeln: Datum und fliegender Adler, der die Scheibe mit dem Hakenkreuz in den Klauen hält, waren für sich allein nicht beunruhigend; aber eine zusätzlich aufgeklebte Amtsmarke oder sonstige behördlichen Abzeichen hätten nichts Gutes bedeutet.

Diese bangen Zeiten waren gottseidank vorbei, nie war ihr amtlich mitgeteilt worden, ihr Karl sei zum Wohle des Vaterlandes gefallen.

Wenn jetzt Briefträger „Liebergott“ (den Spitznamen hatten ihm die Kinder des Viertels gegeben, weil er die Leute an der Tür, die im Schlafrock vor ihm standen, immer mit: „Lieber Gott, es ist ja noch so früh!“ begrüßte) vor der Tür stand und die Briefpost überreichte, war sie sicher: Da war kein amtlicher Brief dabei, auch keiner, der noch länger das Hakenkreuz trug.

Seit Deutschland kapituliert hatte, seit sie wusste, dass ihr Sohn schon Wochen vor Kriegsende in Gefangenschaft geraten war und lebte, bekam sie keine Herzkasper mehr, wenn Liebergott an der Tür klingelte. Sorgen machte sie sich zwar immer noch, denn auch in der Gefangenschaft konnten sich noch Dramen abspielen. „Bleiben Sie man gelassen, Frau Bauer,“ beschwichtigte sie Liebergott jeden Morgen, „der ist bei den Briten gut aufgehoben, da in Ägypten. Hier haben sie erst mal seinen Brief und freuen sie sich ein bisschen!“

„Aber ob der genug zu essen bekommt? Die Briten haben doch selbst nix. Und der Karl ist erst siebzehn, der wächst doch noch! Ich hab ein paar Konserven gebunkert, und zwei Dauerwürste hab ich auch ergattert, das leg ich alles für ihn weg, bis er wiederkommt.“

„Aber liebe Frau, was ist denn mit dem Kleinen? Der muss doch auch essen!“

„Der Frechdachs? Ach, der wurschtelt sich schon durch. Der ist wie eine Ratte, die sich auf jedem Gelände zurechtfindet.“

„Ja, machen Sie sich denn über den Kleinen keine Gedanken?“

„Gedanken, Liebergott? Welche Gedanken? Ich bin heilfroh, dass er erst dreizehn ist und nicht eingezogen wurde! Der kommt schon durch, jetzt, wo die Sauerei vorbei ist. Gedanken hab ich mir gemacht, als uns die Bomben im März und im November aufs Dach fielen! Und Gedanken mache ich mir, wo wir Kohle für den Winter herkriegen, der soll nämlich bestialisch kalt werden.“

„Good Morning, Lady … Sir …

Liebergott guckt konsterniert. „Wer war das?“

„Das ist einer von Lydias besten Kunden.“

„Ein Schwarzer?“

„Ein Amerikaner. Mit Fressen im Gepäck.“

„Seit wann geht das?“

„Weiß nicht genau. Seit einigen Monaten. Sie versorgt die gesamte Familie.“

„Davon habe ich gar nichts mitgekriegt.“

„Nee, die hat ja auch außer Mutter, Vater, Onkels und Tanten weder Rind noch Kind. Die kann machen, was sie will. Die hatte nie jemandem im Feld, der ihr Briefe schrieb.“

„Aber sie ruiniert ihren Ruf …“

„Lieber Liebergott, natürlich trägt sie längst die Stigmen „Hure“, „Ami-Hure“ und „Nigger-Hure“. Es ist ihr egal. Ihr Hauswirt duldet ihre „Geschäfte“, weil er davon profitiert: Sie zahlt den höchsten Mietpreis – ausgekuhhandelt.“ Und weißt du was, lieber Liebergott: Vielleicht hätte ich auch diesen Weg gehen sollen, um endlich mal satt zu Bett gehen zu können! Aber wie könnte ich das meinem Sohn erklären, sollte er jemals wieder heimkehren?“

Liebergott schweigt.

„Tja, Liebergott, Die Not weist uns Frauen Wege. Wer von uns keinen wählt, begibt sich in Gefahr, zu verrecken. Und dieses Verrecken ist besonders traurig, wenn es einem sinnlosen Warten geopfert wurde - ich weiß bis heute nicht, was aus meinem Mann geworden ist.“

Sie kämpft mit den Tränen.

Liebergott nimmt ihre Hand, mit der sie die Augen wischen will.

"Frau Bauer, ich hoffe mit Ihnen, dass Ihr Karl zurückkommt!"

"Danke, Liebergott. Er wird zurückkommen. Ich weiß es. Er hat mich noch nie enttäuscht."

12.10.2014
by Ilka-Maria
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Alt 12.10.2014, 20:50   #2
weiblich Schreibfan
 
Benutzerbild von Schreibfan
 
Dabei seit: 02/2014
Ort: bei Stuttgart
Alter: 40
Beiträge: 976


Das ist eine sehr berührende Geschichte, die du äußerst flüssig und dicht erzählst.

Einzig das Wort "Herzkasper" stört mich etwas, es ist zu umgangssprachlich, finde ich.

Gruß, Schreibfan
Schreibfan ist offline   Mit Zitat antworten
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