Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 14.01.2006, 21:10   #1
Vedian
 
Dabei seit: 01/2006
Beiträge: 7


Standard Das Lied der Säulen

Das Lied der Säulen



Das Land, welches unter dem kraftvollen, aber dennoch merkwürdig trostlosem Sonnenuntergang lag, schien völlig darauf zu verzichten, seinem Betrachter gefallen zu wollen. Verdorrt wie eine Wüste und noch um einiges lebloser ließ es als einzige Bewegung den fliegenden Sand gewähren, den der Wind mit sich trug. Ich kam mir vor wie auf einem Friedhof, den selbst die Toten verlassen hatten.
Die spätabendliche Sonne warf über schwarze, viereckige Säulen, die überall auf der flachen Ebene verteilt waren, lange Schatten. Die "Gebäude" waren kilometerhoch, und ihre Oberfläche schien wie mit Wachs überzogen. Und es war überflüssig, sie zu zählen, denn sie waren bis zum Horizont und wahrscheinlich noch weit darüber hinaus über das verwüstete Land verteilt.
"Du hast die Gräber entdeckt?", fragte eine helle, neugierige Stimme neben mir.
Ich erschrak und fuhr herum, meine Arme zuckten zusammen und ich nahm unwillkürlich eine Abwehrhaltung ein, die mich ein wenig an die eines Judokas erinnerte.
Im Licht der untergehenden Sonne konnte ich eine Gestalt erkennen, erschreckend dünn und ausgemergelt. Aber menschlich, was mich in gewissem Maße beruhigte.
Sie war eine Frau, ihre Haut war ausgebleicht und leicht bläulich, und obwohl sie so extrem dürr war, zeigten sich beängstigenderweise nicht die Umrisse ihrer Knochen durch ihr Fleisch hindurch. Gekleidet war sie in nur wenige, schmutziggraue Stofffetzen.
"Hab keine Angst vor mir", bat sie mit ihrer beinahe körperlosen Stimme. "Dir passiert an diesem Ort nichts.“
"Das ist angenehm", gab ich ein wenig unbeholfen zurück, verwirrt und in Gedanken, wo ich nur war. Welcher Ort war dies hier?
"Du bist auf dem Friedhof", sagte sie und sah mich so durchdringend an, dass ich meinen Blick von ihrem abwenden musste. "Und du hast ihn gefunden und die Gräber entdeckt."
Wenn diese schwarzen Säulen damit gemeint waren, waren sie auch nicht schwer zu übersehen gewesen.
"Und was bedeutet das?", fragte ich. Die Frau hatte ihren Blick nicht von mir genommen und sah mich immer noch starr an. Aber irgendetwas war in ihren Augen falsch. Wirkte auf mich nicht richtig und war irgendwie unwirklich. War sie blind? Aber wie nahm sich mich dann wahr? Und woher wusste sie, dass wir auf diesem seltsamen Friedhof waren? Und woher war sie so urplötzlich gekommen.
Hier war etwas außerordentlich falsch... zum Greifen echt, aber im Grunde falsch.
"Du hast die Gräber gefunden, und ihre Jotuah", erzählte sie mir.
"Ihre was?"
"Ihre Jotuah. Ihre Grabsteine", erklärte sie geduldig. "Sie sind über 22 Kilometer hoch. Unter jedem liegt ein Mensch, der etwas Böses getan hat. Und oben, auf der Spitze, hängt ein Mensch, der gut war. Es sind Millionen. Und der Rest von uns lebt hier unten."
Ich war noch verwirrter als zuvor.
Sie runzelte die Stirn. "Vielleicht sind auch die Menschen oben, die böse gewesen sind."
In mir tauchte die Frage auch, wer entscheiden würde, wer ein guter Mensch war und wer ein böser war. Doch bevor ich die Frage stellen wollte, fing die Frau an, zu reden.
"Es ist auch egal... wenn das Lied gespielt wird und der Wind es herbei trägt, erreicht man eine bessere Welt ... eine Welt, in der der Schmerz vergessen ist, unter dem wir diese gräßlichen Bauten errichten mussten."
Ein schmaler Pfeifton sang von der Ebene zu mir hoch. Er war sanft, sauber und tat dennoch in meinen Ohren weh - schnell hielt ich mir die Ohren zu, weil der Ton plötzlich gewaltsam umschwang und sich in ein hirnschmerzendes Gejaule verwandelte. Alle weltlichen Geräusche übertreffend klang es wie das ohnehin schon unangenehme, jedoch tausendfach verzerrte und verstärkte Bremsen eines Zuges, der in einen Bahnhof einfährt. Ich schloss die Augen, um den Laut besser ertragen zu können, und presste die Hände gegen meine Ohren, kauerte mich zusammen und wartete, bis der Klang aufhörte.
Langsam öffnete ich wieder die Augen und fand die Frau neben mir vor, die regungslos auf dem Boden lag. Ich eilte zu ihr und fühlte den Puls.
Sie war tot.
Augenblicklich wachte ich auf. Ich hielt meine Erlebnisse nur für einen wirren Traum, zwar geradezu erschreckend real, aber doch nur phantasiert.
Heute weiß ich, dass ich die Zukunft gesehen habe.
Vedian ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.03.2006, 20:27   #2
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Wenn ich auch ein bisschen spät dran bin, aber ich gebe trotzdem noch eine Kritik dazu ab
Ich mag deinen Schreibstil. Sehr gewählte und schöne Worte, auch wenn du damit manchmal aus der "Rolle" fällst. Außerdem ist der Text ein interessanter Ansatz. Ich nehme an, dass die Geschichte noch weiter führt, denn mit diesem Ende wäre ich nicht zufrieden
Yve
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Das Lied der Säulen

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche



Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.