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Alt 04.02.2023, 19:57   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Einsamkeit

Es gab eine Zeit, da hatte ich von meiner Wohnung dreißig Minuten stramm zu gehen, um den Bahnhof zu erreichen, von dem der Intercity bis Frankfurt ohne Zwischenhalt fuhr. Abends ging ich den Weg zurück, kaufte aber zwischendurch in dem Ladenzentrum ein, an dem ich täglich vorbeiging.

Einmal machte ich morgens eine Ausnahme und nahm den Bus, denn es war bitterkalt und draußen lag in der Nacht gefallener Schnee. Der Bus war gut besetzt, aber nicht voll. Mir gegenüber saßen zwei alte Menschen, ein Mann und eine Frau. Er wirkte behäbig und stützte sich auf den Griff eines Stocks, den er zwischen seine Schenkel gestemmt hatte. Die Frau war schmächtig, und ihre Körperhaltung war ein Haufen Elend.

"Wenn du weg bist …", jammerte sie, "dann geh ich zurück in die leere Wohnung. Was soll ich denn machen in der leeren Wohnung?"

Der alte Mann ließ sie reden, denn offensichtlich wartete jemand auf seine Rückkehr. Er sagte kein Wort. Er schien seine Pflicht getan und zur Beerdigung gekommen zu sein. Und nun war es für ihn Zeit, sich wieder seinem eigenen Leben zu widmen.

Vermutlich waren diese beiden Leute Geschwister. Und aus seinem Schweigen ging hervor, dass er seiner Schwester nicht helfen konnte. Wer hätte den Platz neu füllen können, den ein Mensch viele Jahrzehnte lang besaß?

Der Bus brauchte bis zum Bahnhof knapp zehn Minuten. Das Nicht-Gespräch der beiden ist mir bis heute ins Gedächtnis gebrannt. Man sagt uns immer, der Mensch sei ein soziales Wesen. Das stimmt, solange der Mensch jung ist. Aber im Alter wird die soziale Decke immer dünner, und irgendwann bleibt einer übrig, der allein dasteht.
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Alt 05.02.2023, 02:20   #2
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Hi Ilka,
Ein unfreiwilliger Zeuge eines Gespräch zieht aus einer kurzen Begegnung seine eigenen Schlüsse von der immer dünner werdenden Decke und der zwangsläufigen Einsamkeit im Alter. Seine Gedanken sind wie Vorboten einer dunklen Zukunft, welche bei den meisten Menschen Angst erzeugen dürfte.
Der Trauer und dem Gefühl von Ohnmacht wird ein Mensch im höheren Alter nicht zum ersten Male ausgesetzt sein. Allein lebensentscheidend bleibt der Umgang mit solchen Schicksalsschlägen.
Die Altersforschung beschäftigt sich u.a. mit dem Phänomen der Resilienz, d.h. sie geht der Frage nach, warum manche zur größeren Vereinsamung im Alter tendieren und andere nicht. Vorbeugende Kriterien sind wohl Bewegung, sind innerlich abrufbare Bilder, Hobbys, Spiele, Gesang, Neugierde, die eigene Übersicht über Finanzen, kurzum die gesamte Lebensführung. Das Schicksal ist somit durchaus vorher schon mit klarem Verstand beeinflussbar in aller Verantwortung und Selbstwirksamkeit. Das steht im Gegensatz zur schmerzhaften Conclusio des Li, wenn es über die dünne Decke sinniert und dem Gefühl nachhängt, irgendwann alleine und vereinsamt übrig zu bleiben. Unreflektierte Glaubenssätze werden sicherlich zu manchem Altersleid mit beitragen und genau zu dieser Vereinsamung führen. Wer mit Alteneinrichtungen zu tun hat, wird diese beiden „Typen“ schnell ausfindig gemacht haben. Komischerweise scheint das nichts mit Krankheit, Schmerz, Bettlägerigkeit oder erlebtem Schicksal zu tun zu haben. Auch scheint die Besuchsfrequenz hierbei keine wesentliche Rolle zu spielen. Interessant in diesem Zusammenhang wäre auch der Einfluss der inneren Haltung wie z. B. Demut, Dankbarkeit, Genügsamkeit oder Ergebenheit, welche sich bekanntlicher Weise trainieren lässt.
LG Donna
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Alt 05.02.2023, 02:29   #3
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Und was soll das alles sagen?
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Alt 05.02.2023, 02:40   #4
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Um es nachzuschieben: Ich bin gerne allein, war schon in meiner Kindheit lieber für mich, und ich weiß bis heute nicht, wo die Grenze zur Einsamkeit zu ziehen ist, also ab wann man bestimmt sagen könnte, dass man einsam ist. Letztendlich ist sich jeder selbst, und noch immer ist jeder Mensch allein gestorben.
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Alt 05.02.2023, 10:54   #5
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Und was soll das alles sagen?
Natürlich ist Einsamkeit ein schwer fassbarer Begriff, welcher aber in der Psychologie und Wissenschaft durchaus beschrieben wird: neben der Leere und Müdigkeit wird sie am Rückzug, vllt. an einer gewissen Reizbarkeit oder Nervosität zu erkennen sein. Der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit liegt im Gefühl. Alleinsein beschreibt den Zustand von der Abwesenheit anderer Menschen, während Einsamkeit das innere Befinden beschreibt. Differenzialdignostisch werden soziale Isolation, Depression etc, davon abzugrenzen sein. Grundsätzlich macht die Akzeptanz von Einsamkeit unabhängiger, und Genießer eines Zustandes haben es einfacher, weil er somit zu einem selbstgewählten und positiv konnotierten Zustand werden kann.
Während früher noch die existentielle Einsamkeit als ein unvermeidbarer Teil des Lebens beschrieben wurde, der im Zusammenhang mit existentiellen Erfahrungen wie Geburt oder Tod entsteht, wird Einsamkeit heute wohl wesentlich differenzierter betrachtet. Ich denke, dass das Li mit solchen Vorstellungen einer existentiellen Einsamkeit unterwegs ist. Es sind letztendlich Glaubenssätze, welche unser Leben im Wesentlichen mitbestimmen, die mit Altersweisheit und Lebenserfahrung wenig gemeinsam haben. Mit der Resilienzforschung hat sich eine Bekannte von mir in Brüssel beschäftigt. Mich haben die Kriterien und Parameter überrascht, von welchen Einsamkeit abhängen. Sicherlich werden auch weitere interessante und wissenschaftliche Details vom Kompetenznetz Einsamkeit ( KNE) zu erfahren sein, welches einen guten wissenschaftlichen Überblick verschafft. Z.T. wird der Einsamkeitsbegriff in der Wissenschaftstheorie noch weiter aufgeschlüsselt, ob es sinnvoll ist, darüber wird sich streiten lassen. Zugängliche Literatur dazu gibt es jedenfalls genug für denjenigen, der sich einlesen will.
In diesem Zusammenhang stellt sich mir die Frage, ob Sterben zum Schluss wirklich ein höchst einsamer und individueller Prozess sein muss, wie es landläufig und unreflektiert angenommen wird. Diese Annahme unterliegt zumindest unserer subjektiven Wahrnehmung und wird niemals verifizierbar sein. Sie ist immer überschattet von unserer Lebenseinstellung, unseren eigenen Ängsten und düsteren Vorahnungen.
Vielleicht ist es in Wirklichkeit ein höchstes Glückmoment der Befreiung und Erleichterung, welches uns durchfluten wird, welches der sterbende Körper nur nicht mehr ausdrücken kann, und mit Einsamkeit nicht im geringsten beschrieben werden könnte – wir wissen es nicht.
Wir wissen auch nicht, ob die (anzunehmende) Wittwe im Bus zukünftig aufblüht, ob sie an der neuen Situation wächst, oder geradewegs auf ihren zweiten Frühling zusteuert. Die Welt liegt immer im Auge des Betrachters und hier wird mehr über jenen Betrachter als über die Frau erzählt.
LG Donna
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