Fünf vor zwölf

[Ilka-Maria]

Der Mann von der dürren Gestalt:
Mit stählernen Händen
hat er das Buch aufgeschlagen,
dessen Goldschnitt stumpf geworden ist,
blättert Seite für Seite um
und trägt mir ihre Geschichten vor,
liest meine Erinnerungen heraus,
meine Sünden und Frevel,
meine Versäumnisse und Gier.
Monoton wie ein Urteilsverkünder
und im Takt der Perpendikel
zieht er die Bilanz meines Lebens,
schürt Zwiespalt, Hader und Reue,
Verzweiflung und Angst,
bis ich mir wünsche,
nie geboren worden zu sein.

19.01.2023

[Heinz]

Liebe Ilka-Maria,
meinen von Irrtümern befeuerten Beitrag habe ich gelöscht.
Liebe Grüße,
Heinz

[Ilka-Maria]

Ich bin nicht das Lyrische Ich, Heinz. Es geht auch nicht um die Länge bzw. Kürze des Lebens, sondern um die zu späte Erkenntnis, dass bei mangelnder Selbstreflexion irgendwann der "point of no return" gekommen ist, ab dem man unwiederbringlich die Gelegenheit verpasst hat, Fehler wiedergutzumachen. Es könnte ja sein, dass die Menschen, die man verletzt oder falsch eingeschätzt hat, nicht mehr da sind.

LG
Ilka

[Heinz]

Liebe Ilka-Maria,
ich bereue und habe berichtigt:

Das lyrische Ich, so scheint mir, ist ein junger Hüpfer und sollte es weder Hiob noch Faust gleich tun und voller Verzweiflung den Tag, die Stunde seiner Menschwerdung verfluchen.
Der Mann von der dürren Gestalt ist der Bedauernswerte, hat er es doch nur mit kurzfristigen Begegnungen zu tun und muss immer nur Hermes nachahmend die Fackel umdrehen, die Flamme löschen. Dem LI sei tröstend gesagt: Es kommen noch wunderbare Jahre, und sollte seine Elegie darauf hindeuten, dass sich der Tag naht, der die Schwangerschaft seiner Mutter vor ein paar Jahren beendete, sollte es mit mir singen:

Gaudeamus igitur
iuvenes dum sumus.
Post iucundam iuventutem
post molestam senectutem
nos habebit humus!

[Ilka-Maria]

Jetzt stimmt es Heinz. Ich danke dir fürs Lesen, und das Lyrische Ich wird über deinen tröstenden Zuspruch nachdenken.