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Alt 02.01.2023, 21:41   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Eva

An der Eingangstür zur Uni-Bibliothek klopfte sich Adrian die Schneeflocken von der Brust seines Wintermantels, betrat die Vorhalle und ging zum Tresen. Am Computer saß eine junge Frau, die bei seinem Anblick aufstand und ihm zulächelte. "Kann ich dir helfen?" Doch Adrian stand wie urplötzlich in Stein verwandelt vor ihr und brachte kein Wort hervor. Einzig in seinen Augen funkelte noch Leben, und aus geweiteten Pupillen, schwarz wie ein nächtlicher Bergsee, starrte er sie an. Ihr Lächeln erstarb. "Ist alles in Ordnung?", fragte sie, Unsicherheit in der Stimme.

"Eva?", brachte Adrian endlich hervor. Die junge Frau, bemüht, zu verstehen, was ihn ihm vorging, streckte ihm die rechte Hand hin. "Ich heiße Lisbeth und bin neu hier. Aber nur zur Aushilfe. Und du? Wie heißt du?" Zögernd ergriff er ihre Hand. "Adrian, Adrian Berwang." Sie lächelte wieder, und diesmal lächelte er zurück. "Tut mir leid, dich verwirrt zu haben, aber du hast mich an jemanden erinnert. Die Ähnlichkeit ist frappierend. Einen Moment lang war ich nicht mehr ganz … ganz anwesend."

"Kommt vor."

"Ja, manchmal ist es verrück. Aber eigentlich bin ich hier, weil ich ein Buch ausleihen will. Es war noch in Umlauf, und ich hatte es vorbestellt." Er schob ihr einen Zettel mit Titel und Namen des Autors hin. "Medizin, hm?", fragte sie. Er nickte. "Ich will Veterinär werden."

"Moment, ich schaue nach." Sie ging zum Computer, prüfte die Datenbank und verschwand im Bestellraum. Wenige Sekunden später kam sie, das Buch triumphierend in der Hand schwenkend, zum Tresen zurück. "Pünktlich abgegeben und in Wartestellung."

Nachdem sie die neuen Verleihdaten aufgenommen hatte, drückte sie das Buch mit beiden Armen an ihre Brust. "Meine Eltern haben immer gesagt, ich sei ein Naseweis und meine Neugier würde mir eines Tages teuer zu stehen kommen. Aber das ist mir egal. Wenn du das Buch haben willst, musst du mir sagen, wer diese Eva ist, die so aussieht wie ich."

Er schaute auf seine Armbanduhr. "Ich muss in die Vorlesung. Wie lange hast du Dienst?"

"Bis eins."

"Um halbzwei im Café La Strada?"

Sie nickte und gab ihm das Buch. Bevor er die Halle verließ, drehte er sich am Ausgang nochmal um. "Sie war ein Mädchen vom Lande."

Sie hatten heiße Schokolade und Schwarzwälder Kirsch bestellt. "Ich war dreizehn und hatte eine schwierige Phase. Meine Eltern kamen mit mir nicht mehr klar, und ich mit ihnen noch weniger. Und dann der Verrat meiner großen Schwester, die sich plötzlich nicht mehr für mich, sondern nur noch für andere Jungs interessierte. Mit meinen Schulnoten ging es bergab, und als ich meinen Klassenlehrer als Arschloch beschimpfte, drohte mir der Schulverweis. Da nahm mich meine Großmutter erstmals in den Osterferien für drei Wochen mit in das Dorf, in dem sie aufgewachsen war und auf ihre alten Jahre in jedem Frühjahr Urlaub machte. Dort sollte ich auf andere Gedanken kommen."

"Nicht die schlechteste Idee", warf Lisbeth ein und nippte an ihrer Schokolade. "Deine Großmutter schien eine weise Frau zu sein."

"Das war sie. Und sie war in ihrem Dorf beliebt. Wir wohnten bei einer Bauernfamilie, und Eva war die älteste Tochter, vierzehn Jahre alt, aber schon eine junge Frau. Sie hatte kastanienbraunes, langes Haar wie du, die gleichen bernsteinfarbenen Augen, die so groß und sanft waren wie die eines Rehs, das Gesicht einer griechischen Göttin und den Liebreiz einer Märchenprinzessin."

"Du bist ja ein Romantiker", spöttelte Lisbeth. "Übertreibst du nicht ein wenig?"

"Möglich. Aber Eva war meine erste große Liebe, und sie ist es bis heute geblieben. Natürlich war sie keine Göttin, sonst hätte sie sich nicht von einem Sterblichen wie mir küssen lassen. Aber ich hatte ihr auch gefallen, und so kam es dazu, dass wir intime Zärtlichkeiten austauschten. Sogar sehr intime. Es war wunderschön und bleibt mir unvergesslich."

"Aber nach drei Wochen waren die Osterferien vorbei."

Adrians Miene verdüsterte sich. "Alles ging wieder von vorn los, der Ärger mit meinen Eltern und der Stress in der Schule. Aber ich war nicht mehr derselbe wie vor den Osterferien. Eva hatte mir eine neue Welt eröffnet. Gemeinsam haben wir Ställe ausgemistet, die Kühe auf die Weide getrieben und am Abend wieder heimgeholt, sind auf des Nachbars Pferden durch die Wälder geritten, haben ihnen hinterher den Dreck aus den Hufen gelöst und ihnen den Schweiß aus dem Fell gestriegelt, ihnen bei der Geburt ihrer Fohlen geholfen und die Schweine und Hühner gefüttert. Da war klar, welchen Weg ich gehen wollte: Die Schule schaffen, egal wie, Medizin studieren und Tierarzt werden."

"Wie ging es weiter mit Eva und dir?"

"Gar nicht. Oder doch. Anfangs schrieben wir uns Briefe. Viele Briefe. Oma und ich planten, im nächsten Jahr wieder in ihr Dorf zu reisen, aber kurz vor Weihnachten starb sie. Die Lederwarenfirma meines Vaters ging pleite, weil er mit der italienischen Konkurrenz nicht mehr mithalten konnte, und dann reichten meine Eltern ihre Scheidung ein. Ich nahm einen Job als Auslieferungsfahrer für eine Großreinigung an, um mein Studium finanzieren zu können. Für Urlaub reichte das Geld nicht mehr."

Adrian bestellte für sich und Lisbeth noch einen Kaffee. "Dann verlor ist Eva aus den Augen. Wir zogen um, und ihre Eltern zogen ebenfalls um, weil sie ihren Hof nicht mehr halten konnten. Das letzte, was ich von Eva gehört hatte, war, dass sie eine Arbeit in einer Gürtelfabrik angenommen hatte. Wir waren jung und unerfahren und wussten nicht, wie man bei der Post Nachsendeanträge stellt, und unsere Eltern wussten nichts von unserer Liebe."

"Das klingt sehr traurig. Ihr hättet glücklich werden können."

Adrian versank für einen Moment in sich, ehe er Lisbeths Hand in seine nahm. "Wollen wir uns wiedersehen?"

Als sie draußen waren, hatte sie eingewilligt, warf ihm eine Kusshand zu, lachte laut und rief ihm entgegen: "Du hast mich nicht gefragt, was ich studiere und an wen du mich erinnerst. Ich sag's dir auch nicht ungefragt."

Er fragte sie nie danach.

Als Lisbeth Adrian das Ja-Wort gab, wusste sie, dass sie second-hand war. Sie hoffte dennoch, ihn von seiner Sehnsucht heilen und für sich gewinnen zu können, wie bereits unzählige Frauen und Männer versucht haben, ihre große Liebe von der Sucht des Alkohols oder dem Verfall in die Depression heilen zu können. Doch immer, wenn er leidenschaftslos in sie eindrang, wusste sie, dass er das Gesicht der anderen vor Augen hatte und nichts als seinen Trieb befriedigte, aber im Herzen unerfüllt blieb. Als der medizinische Nachweis vorlag, dass er zeugungsunfähig und in seiner Männlichkeit gekränkt war, änderte Lisbeth ihren Lebensplan und reichte die Scheidung ein. Sie war neu verliebt und schwanger und zog zu ihrem Liebhaber. "Lass nicht locker!", gab sie Adrian bei der Trennung mit auf den Weg. "Vielleicht wartet Eva genauso auf dich, wie du sie nie vergessen konntest."

Im Dorf seiner Großmutter, das fast zu einer kleinen Stadt angewachsen war, machte er sich auf die Suche. Die Gemeinde verweigerte ihm jedoch die Auskunft, und auch der Pfarrer konnte ihm nicht weiterhelfen. Datenschutz. Doch der alte Meyerhans-Paul wusste Bescheid. "Das Evchen, das hat einen von drüben geheiratet, so einen Schnösel, der nicht zu uns gehört", sagte er mit Verachtung in der Stimme, während er ein frisch geschlachtetes Schwein ausweidete und die blutigen Gedärme in eine Wanne klatschte.

Als "von drüben" bezeichneten die Dorfbewohner den Nachbarort, eine kleine Siedlung, die von Investoren künstlich hochgezogen worden war, um Touristen anzulocken. Dort gab es keine Bauernhöfe, sondern Mietbungalows für Urlauber, Sommerresidenzen für Stadtbewohner, ein Hotel, einen Ponyhof, einen Skiverleih, einen Supermarkt, zwei Restaurants und einen Shuttle zum nächstgelegenen Bahnhof.

Adrian nahm sich ein Zimmer im Hotel. Er fand Eva am nächsten Morgen auf dem Ponyhof, als sie dabei war, im Stall die kleinen Pferde für die Routine des Tages aufzuzäumen. "Das tut den Tieren nicht gut." Sie sah ihn spöttisch an. "Klugscheißer wie Sie haben wir hier jeden Tag. Klugscheißer, die trotzdem dafür bezahlen, ihre Kinder auf den Rücken unserer Ponys zu setzen. Fragt sich, wer dabei stumpfsinniger wegkommt, die Pferde oder die Kinder."

Sie hatte ihn nicht erkannt. "Von irgendwas muss man leben", fuhr sie fort, Verbitterung in der Stimme. "Was machen Sie beruflich, um darüber urteilen zu können."

"Ich bin Tierarzt."

"Ach? Dann haben Sie so etwas wie ein Sendungsbewusstsein?" Sie stellte sich vor ihn. "Mein Mann ist vor einem Jahr tödlich verunglückt, ich habe zwei Kinder zu ernähren, und das einzige, was uns am Leben erhält, ist dieser Betrieb. Das letzte, was ich brauche, ist ein Moralapostel, der mir die Rechte der Tiere erklärt."

"Es … es tut mir leid", stammelte Adrian. "Ich hatte gehofft, hier Eva zu finden." Er verließ den Stall in der Überzeugung, eine der größten Eseleien seines Lebens begangen zu haben. Hinter ihm verschallte sein Name, den ihm Eva nachgerufen hatte. Sie hatte Adrian wiedererkannt, aber da war er bereites außer Hörweite.
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.01.2023, 13:07   #2
männlich dunkler Traum
 
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... wow, das Leben selbst, keine Lovestorie, wie ich erwartete. Gern und flüssig gelesen, macht traurig wie die Wirklichkeit.

beaux rêves
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.01.2023, 07:59   #3
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Ja, so kann es gehen, wenn man sein Leben lang einem selbst erschaffenen Traumbild hinterher läuft. Am Ende zerplatzt das Bild an der Wirklichkeit.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.01.2023, 19:21   #4
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
ab hier: ""Eva?", brachte Adrian endlich hervor." war das Ding gelaufen.
Fast vergleiche ich den Ablauf mit einem einem einzigen Mal in meinem Leben, in dem ich eine Frau mit dem Vornamen einer Verflossenen anredete. Den weiteren Verlauf kannst du dir denken.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 04.01.2023, 20:36   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Fast vergleiche ich den Ablauf mit einem einem einzigen Mal in meinem Leben, in dem ich eine Frau mit dem Vornamen einer Verflossenen anredete. Den weiteren Verlauf kannst du dir denken.
Ja, kann ich, Heinz. Aber könnte das einer Frau nicht ebenso passieren ?

Natürlich nicht, denn Frauen sind die besseren Geheimniskrämer, Schatullenbewahrer, Merkzettel alles bisher Gesagten (Lügen inbegriffen) und Wahrheitsjonglierer. Wenn eine Ehefrau ihren Mann mit "Franz-Josef" anspricht, obwohl er "Hans-Jürgen" heißt, redet sie sich locker vom Hocker damit raus, dass sie gerade eine Doku über einen bayerischen Ex-Minister gesehen hat.

Aber wie redet sich ein Ehemann heraus, der seine Ehefrau namens "Irene" mit "Inge" oder "Iris" angsprochen hat?

Da kann man Ehemännern auf Abwegen nur raten, sich auf Frauen einzulassen, die z.B. Tatjana, Tusnelda, Krimheldis, Katapultalka, Atzapuhatekle oder sonstwie mehrsilbig heißen. Und außerdem ist immer zu getrennten Schlafzimmern zu raten, weil man in Träumen manchmal rumspinnt und zu reden anfängt. Da kommt nicht immer Ausgeruhtes und Entspanntes dabei raus.
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Alt 05.01.2023, 20:40   #6
männlich Heinz
 
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es gibt noch praktikablere Lösungen: Man suche sich eine Geliebte mit gleichem Vornamen. Die sechziger Jahrgänge wimmeln von Barbaras und Petras und die Herren der Schöpfung werden nicht vor unlösbare Probleme gestellt.
H.
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