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Alt 21.11.2022, 21:39   #1
männlich traudl
 
Dabei seit: 11/2022
Beiträge: 44


Standard Marthas Gebrechen

„Mensch Martha! Lange nicht gesehen! Wie geht’s denn so?“
„Schlecht.“
„Ach! Sieht man dir gar nicht an! Wo brennt´s denn?“
„Meine Wortallergie wird immer schlimmer.“
„Deine was?“
„Meine Wortallergie.“
„Nie gehört! Und wie macht sich diese Allergie bemerkbar?“
„Wenn du mir ein Eis spendierst erzähl ich´s dir.“

„Doro, Erinnerst du dich noch an den Jörgi aus der 13A? – Genau der! Neulich traf ich ihn zufällig in der Stadt und da erzählte er mir, er habe vor einem halben Jahr sein Herz verloren und gedenke, demnächst zu heiraten. Ohne zu überlegen rief ich: 'Oh, das ist ja entsetzlich! Warst du schon auf dem Fundbüro?' Doro, lach nicht! Ich weiß selbst, wie dämlich diese Bemerkung war. Was mich dazu bewog war einzig die Tatsache, dass man sein Herz nicht verlieren kann. Ich hab schon alles Mögliche verloren, aber mein Herz noch nie. Ich meine, eine Fahrkarte, gut, die kann man schon mal verl–“
„Du hast wirklich gesagt, er soll zum Fundbüro gehen?“
„Natürlich!“
„Und wie hat er reagiert?“
„Er fragte, ob ich noch ganz dicht ihm Kopf sei.“
„Und was hast du geantwortet?“
„Die Wahrheit, Doro, die Wahrheit! Dass ich Wortallergikerin bin und mich eine ungeschickte Wortwahl krank macht.“
„Hmm . . . Ich nehme mal zu seinen Gunsten an, Jörgi hat nur das falsche Wort erwischt. Wer kennt sich denn in der deutschen Sprache schon richtig aus! Ich überlegte, ob er vielleicht sagen wollte: He, sie haben mir mein Herz herausoperiert und durch ein Spenderherz ersetzt.“
„Schon möglich. Aber wieso musste er er dann gleich heiraten? Er weiß doch gar nicht, wie lange sein neues Herz durchhält.“
„Vielleicht hat es der Jörgi ja verlegt, das Herz? Hast du daran schon mal gedacht? Wird auch gerne benutzt, das Wort, wenn man etwas vermisst und nicht weiß, wo es gerade ist.“
„Aber natürlich, Doro, natürlich! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Das wird es sein! Er hat es verlegt, sein Herz!“ Marthas Faust sauste auf den Tisch. „Ha, willst du mich auf den Arm nehmen? Wie willst du denn dein Herz verlegen?“
„Na ja ... Ich denke nur: Was verlegen die Leute nicht alles! Mein Vater zum Beispiel ist einer der größten Verleger aller Zeiten, wie man so sagt. Nicht nur wegen seines Bierverlags. Meistens verlegt er auch noch seinen Autoschlüssel. Dann rennt er wie ein Besessener durch die Wohnung, sucht hier, sucht da, schreit: 'Eben war er doch noch da!' und: 'Doro, hast du zufällig meinen Autoschlüssel gesehen? Hab ihn wohl verlegt! Und meine Flasche Bier ist auch weg'! Ich schau mir die Komödie eine Weile an, dann sag ich: 'Mensch Papa, hast du nicht vorhin ein Bier in den Kühlschrank gestellt?' Und rums!, da liegt er, der Schlüssel! Im Kühlschrank! Neben der Bierflasche. Dann steht mein Herr Übervater verlegen grinsend da und brummt: 'Teufel auch, darauf wär ich nie gekommen!'“
„Hmm . . . Sag mal, Doro, du bist in der Zwischenzeit ganz schön füllig geworden. Das viele Eis, wie?“
„Na gut, ein paar Gramm könnte ich schon abnehmen – hallo, Martha, ist dir nicht gut? Du zitterst ja wie Espenlaub!“
„Geht schon, kommt vom abnehmen.“
„Wie, du auch? Bei deiner Figur –“
„Quatsch nicht! Ich meine das Wort 'abnehmen'. Birrr . . . Könnte aus der Haut fahren!“
„Aber wieso denn? Was ist denn an dem Wort so schlimm?“
„Schlimm? Ein Unwort ist es! Was willst du dir denn abnehmen? Die Fettringe etwa? Da kann ich nur lachen! Natürlich. Ständig wird den Leuten etwas abgenommen, von der Polizei, vom Finanzamt, im Behördenzentrum, im Krankenhaus, auf dem Flohmarkt, am einarmigen Banditen – man glaubt ja gar nicht, wo und was alles abgenommen wird und wofür es alles Abnehmer gibt. Meine Mutter will sogar beim Nähen Abnehmer entdeckt haben. Aber eine Behörde nimmt nichts ab! Sie zieht ein, beschlagnahmt, stellt sicher, konfisziert. Nein nein nein, auch 'abnehmen' trifft´s nicht. Zu vieldeutig, und schwierig, schwierig! Hab schon wieder diesen ekligen Juckreiz, allein vom daran Denken.“
„Dann ziehe ich eben den Bauch ein. Wär es so recht?“
„Mann! Hörst du überhaupt zu? Ich sagte doch eben: Einziehen kann nur ein Amt, eine Behörde. Der Vorteil beim behördlichen Einziehen ist immerhin, dass man sicher sein kann, dass der konfiszierte Gegenstand irgendwo aufbewahrt wir, und dass man ihn gegebenenfalls wiederbekommt. Aber wo würdest du deine abgenommenen Fettringe denn aufbewahren? Im Kühlschrank etwa? Und, willst du sie wirklich wiederhaben? Na siehst du! Meine Schwester, die Meike – hast du sie eigentlich mal kennengelernt? Egal. Die will ständig – in Anführungsstriche – abnehmen, aber sie schafft es einfach nicht. ,Ich muss unbedingt abnehmen', röhrt sie, 'wenn das so weiter geht, seh ich in zehn Jahren aus wie die dicke Erna!' Ich wollte sie trösten und sagte: 'Was willst du denn abnehmen? Und wo soll das Zeug dann bleiben?', da keifte sie: 'Halt du dich da raus, du Schlampe!' So viel zu abnehmen.“
„Ehrlich, Martha, solche fetten Sprüche würden mir auch nicht gefallen.“
„Brrrr – Schon wieder so´n Ekelwort.“
„Was hab ich denn nun schon wieder gesagt?“
„Du sagtest gefallen.“
„Und? Was ist daran so ekel?“
„Na überleg mal.“
„Gefallen . . . gefallen . . . Hmm . . . Ich komm nicht drauf. Klingt doch gut.“
„Klingt überhaupt nicht gut. Einer ist vom Baum gefallen, ein Soldat ist gefallen, ein Mädchen ist gefallen, das könnte dir so gefallen . . . Merkst du nichts? Das Wort lügt wie gedruckt.“
„Mein Gott, Martha, du nimmst das alles zu genau, zu wörtlich! Das sind doch Redensarten!“
„Ja zum Teufel, wie soll ich Wörter denn nehmen, wenn nicht wörtlich? Verlieren, verlegen, abnehmen, gefallen, entsorgen . . . Alles Wörter, denen man nicht trauen kann, und die bei mir allergische Reaktionen hervorrufen. Und das sind beileibe noch nicht alle. Da sind auch noch die Wörter 'alt' und 'gut'. Diese beiden Erzspitzbuben der deutschen Sprache sind für mich das, was für andere Allergiker Katzenhaare sind.“
„Alt und gut? Versteh ich nicht.“
„Wer ist jünger, eine alte oder eine ältere Frau, hä? Wie so hat ein gut Verdienender eine dickere Lohntüte als ein besser Verdienender?“
„Lohntüten gibt’s nicht mehr.“
„Nun werd mal nicht spitzfindig.“
„Da hört sich doch alles auf! Wenn hier jemand spitzfindig ist, dann bist du es doch!“
„Nein. Ich bin nicht spitzfindig, ich höre nur genau hin. Weißt du, Doro, manchmal bin ich kurz davor, mir die Ohren zuzustopfen. Soll´n sie mich doch in die Psychiatrie stecken! Alles noch besser als dieser ständige Juckreiz.“
„Da wüsste ich was Besseres.“
„So? Und was?“
„Lies ein gutes Buch! Muss ja nicht gleich Goethes Faust sein. Dann gewinnst du wieder Vertrauen in die Wörter. Möchtest du auch noch ein Eis?“
traudl ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.11.2022, 12:23   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.708


Hallo traudl,

die Idee und Ausführung finde ich echt klasse! Hab mich köstlich amüsiert .

Schöne Grüße
DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.11.2022, 13:12   #3
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Hallo traudl,
huiiiiii, ab sofort werde ich mich in Acht nehmen, o jemine, was rede ich da? - sollte ich nicht doch gleich die Neun nehmen, wenn ich rede oder schreibe?
Deine Wortallergie (vielleicht ein klitzekleines Stück zu lang) ist ein nachdenklich stimmendes Nachsinnen über die Bedeutung nachlässig dahingesprochener Worte und ein toller Einstand bei Poetry, in dessen Forum ich dich herzlich begrüße.
Liebe grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
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