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Alt 05.11.2022, 20:26   #1
männlich Eziotar
 
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Standard Die Spieluhr

Michail Antonowitsch, 14 Jahre alt, war jetzt seit mindestens vier Stunden gelaufen. Die Landschaft hatte sich, seit er das Ferienlager verlassen hatte jedoch kaum verändert. Auen und Felder wechselten sich mit kleinen Wäldchen und Seen ab. Michail wischte sich den Schweiß von der Stirn.
"Wie würden seine Eltern reagieren, wenn er 2 Wochen früher als angekündigt zuhause ankommen würde?" Das wollte er sich gar nicht vorstellen. Aber dort bleiben, das war nicht in Frage gekommen. Seine Zeltgenossen waren ihm von Anfang an unsympathisch und bereits nach zehn Minuten war er wieder der Außenseiter, der er auch in der Schule immer gewesen war. Dann hatten die Jungs ihn furchtbar ausgelacht, weil er während den gemeinsamen Duschen als einziger eine Badehose trug. Aber er hatte sich eben geschämt. Er war erst ganz frisch in die Pubertät gekommen und unten rum war bei ihm halt noch nicht alles voll entwickelt.
Gestern dann aber war etwas Furchtbares passiert, der Grund, warum er es keinen einzigen Tag mehr dort ausgehalten hatte. Michail hatte von seinem Opa, der vor zwei Monaten verstorben war, eine Spieluhr geschenkt bekommen. Sie war mit goldenen, filigranen Rändern verziert und zeigte mehrere ineinander verschlungene Ballerinas. Wenn man sie öffnete, spielte sie eine märchenhafte und melancholische Melodie. Die Taschenuhr war Michails liebster Besitz, weil sie so schön und zerbrechlich aussah und weil sie seinem Opa gehört hatte, den Michail abgöttisch geliebt hatte. Außerdem war die Uhr wohl mindestens 300.000 Rubel wert. Seit er die Spieluhr besaß, nahm er sie überallhin mit. Er hatte natürlich versucht, sie vor seinen Kameraden geheim zu halten, aber schließlich hatten sie sie doch gefunden. Grölend hatten sie sich über das Erbstück lustig gemacht. "Wie schwul ist das denn?" Dann hatten sie die Uhr genommen und sich gegenseitig zugeworfen, während Michail verzweifelt versucht hatte, sie zurückzubekommen. Schließlich war sie ihnen heruntergefallen und nun funktionierte sie nicht mehr. Sie spielte nur noch den ersten Teil des Liedes und wiederholte dieses dann ununterbrochen. Michail hatte angefangen, hemmungslos zu weinen, was natürlich für noch größeren Spott gesorgt hatte. Und so war Michail zu dem Schluss gekommen, dass er keine andere Wahl hatte, als das Sommerlager in Krestsky zu verlassen und sich zu Fuß zurück nach Hause, nach Sankt Petersburg, zu machen. Er hatte darauf verzichtet, sich auszurechnen, wie viele Tage er dafür zu Fuß brauchen würde, die Hauptsache war, dass er von da weg musste.


Plötzlich hörte Michail Hubschrauberbrummen am Himmel.
"Konnte das sein? Suchten die nach ihm?"
Schnell begab er sich in Deckung, in einen Betonverschleiß, der aussah, als sei er früher einmal ein Wartehäuschen gewesen. Hier sollte er vor den Blicken der Piloten in Sicherheit sein.
Aber da saß bereits jemand. Ein dunkelhaariger Mann von etwa 40 Jahren.
Der Mann bedeutete ihm jetzt mit dem Finger, ruhig zu sein und sich still zu verhalten. Das Hubschraubergebrumme riss nicht ab. Er würde hier eine Weile mit dem Fremden zusammensitzen müssen. Da er nichts Besseres zu tun hatte, holte er die Spieluhr hervor und öffnete sie. Sie spielte das halbe, träumerische Lied wieder und immer wieder. Irritiert blickte der Mann zu ihm hinüber.
"Kaputt?", fragte er ihn flüsternd.
Michail nickte.
"Gib mal her", sagte der Mann.
Widerwillig gab Michail ihm die Uhr. Der Mann öffnete den Uhrenkörper, machte einige geschickt aussehende Handgriffe und gab ihm die Uhr zurück. Sie war repariert. Michail hatte es die Sprache verschlagen, er vergaß sogar, sich zu bedanken.
Als die Hubschrauber sich endlich verzogen hatten, fragte der Mann. "Was machst du denn hier? Bist du von zuhause weggelaufen?"
Michail schüttelte den Kopf. "Aus dem Ferienlager".
"Wieso, waren die anderen Jungs gemein zu dir?. Michail errötete.
"Ich kenne das", sagte der Mann schnell. "Kinder können grausam sein. Das hab ich in deinem Alter auch zu spüren bekommen. Ich bin Dimitri Michailowitsch" Er reichte Michail die Hand. Zögernd ergriff dieser sie.
"Michail Antonowitsch", stellte er sich vor. Dann fragte er kritisch "Warum hast du dich vor den Hubschraubern versteckt?"
"Das geht dich nichts an, mein Junge", antwortete Dimitri. Er dachte für eine Weile nach und sagte dann "Was solls, es bringt ja nichts, es zu leugnen. Ich habe eben Probleme mit der Polizei".
Da schien ihm eine Idee zu kommen "Könntest du mich nicht für eine Weile begleiten? Man ist unauffälliger wenn man ein Kind bei sich hat. Polizisten schauen da nicht zweimal hin".
Michail fragte sich, ob er das als Bitte zu verstehen hatte, oder ob er nun eine Geisel war. Komischerweise verspürte er nicht die geringste Angst. Er vertraute diesem fremden Mann.
"Also gut", stimmte er zu.



Es war später Nachmittag, die Hitze hatte zugenommen. Michail und Dimitri waren jetzt seit zwei Stunden unterwegs. Michail taten die Füße weh.
Da meldete sich Dimitri zum ersten mal seit einer Stunde wieder zu Wort.
"Warum bist du abgehauen? Was ist im Sommerlager passiert?"
Aus irgendeinem Grund verspürte Michail den Drang, diesem Mann alles zu erzählen.
"Die Anderen mochten mich nicht. Aber ich mochte sie noch weniger. Sie haben sich über mich lustig gemacht. Mir passiert das immer wieder. Egal, wo ich bin, ich bin der Außenseiter. Es sind halt alles Idioten"
Dimitri lachte. "Als ich in deinem Alter war, hätte ich bestimmt dasselbe gesagt. Wir sind uns da wohl sehr ähnlich. Wie sieht es mit den Mädchen aus?"
"Die mögen mich nicht", gab Michail offen zu. "Ich glaube, ich bin ihnen zu klein"
"Eine Menge Probleme für einen Vierzehnjährigen", meinte Dimitri freundlich.
"Mich haben die Mädchen zwar nie interessiert, aber mit den Jungs hatte ich es nicht einfacher. Das waren andere Zeiten damals in der Sowjetunion. Die meisten wussten nicht mal, was Homosexualität ist, und die, die es wussten, haben uns gehasst"
Michail wusste nicht viel über Homosexualität, außer das Schwule gerne Paraden machten und das ganze Thema irgendwas mit westlicher Propaganda zu tun hatte.
Er antwortete nur "Achso, ich verstehe".
"Vierzehn Jahre ist ein scheiß Alter, kann ich dir sagen. Da kann es nur besser werden", meinte Dimitri aufmunternd.
Nach einer weiteren Stunde Fußmarsch setzte Dimitri sich frustriert auf den Boden. "Es sind noch 400 km zur Grenze nach Estland. Da muss ich hin. Das schaffen wir nicht zu Fuß"
Michail setzte sich ebenfalls und machte ein ratloses Gesicht.
"Wir brauchen ein Auto, Michail"


"Hilfe, Hilfe!", schrie Michail, der mitten auf der Landstraße stand. Er winkte mit den Händen und brachte so den blauen Lada zum anhalten. Eine Frau mittleren Alters stieg aufgeregt aus dem Auto aus. "Was ist denn nur passiert, mein Junge?"
"Mein Bruder ist gestürzt, ich glaube er stirbt gleich", schrie Michail hysterisch. "Bitte kommen sie mit!"
"Du meine Güte, du meine Güte", stammelte die Frau und folgte Michail, ohne vorher den Wagenschlüssel abzuziehen. Michail führte sie auf die Wiese hinter der Straße.
"Wo liegt denn dein Bruder?", fragte die Frau aufgeregt.
Da drehte sich Michail um und rannte so schnell er konnte wieder auf die Landstraße zu, wo Dimitri schon am Steuer des Ladas saß und ihm die Tür aufhielt. Ausgelassen lachend fuhren die beiden davon.


Einige Stunden fuhren sie über die kaum befahrene Landstraße, vorbei an der lieblichen, aber immergleichen Landschaft. Es war schon dunkel geworden. Gegenüber eines Hochspannungswerks stoppte Dimitri schließlich den Wagen.
"Genug für heute, ich bin zu müde, um weiterzufahren"
Im Kofferraum des Autos fanden sie Fischkonserven und ein Sechserpack Bier. Wie selbstverständlich bot Dimitri Michail ein Bier an.
Dieser nahm es ebenfalls wie selbstverständlich an und trank stolz seinen ersten Schluck Alkohol.
Nachdem sie die Fischkonserven gegessen hatten, schaltete Dimitri das Autoradio an. Es lief russischer Chanson. Durch die nahen Lichter des riesigen Hochspannungswerkes und das hörbare elektrische Knistern in der Luft, wirkte die ganze Szene surreal, wie aus einem Film.
"Weißt du, Michail", meinte Dimitri, der angetrunken wirkte, "Deine Einstellung ist nicht gut. Es macht keinen Sinn, alle Menschen zu hassen, selbst wenn sie oft Idioten sind. Du solltest wirklich versuchen Freunde zu finden, eine Freundin und so weiter und dein Leben voll auszukosten. Ich habe das nie gemacht, weil ich immer Angst davor hatte, dass man mich nicht mag. Und heute bereue ich nichts mehr, als meine Jugend verschwendet zu haben. Und dann sie mich mal an. Was ist nur aus mir geworden?" Traurig blickte er zu Boden.
Plötzlich spürte Michail eine tiefe Woge der Zuneigung zu Dimitri. Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen.
Im Radio begann jetzt ein neues Lied, einen Chanson, den Michail von seinem Opa kannte, und den er sehr liebte. Er hatte auf einmal das Bedürfnis, mit Dimitri zu tanzen. Und, vielleicht weil er schon zwei Bier intus hatte, dachte er nicht lange nach, und nahm Dimitris Hand.

Früh am nächsten Morgen fuhren die beiden weiter. Dichter Nebel lag in der Luft und es war ausgesprochen kalt. Michail hatte einen Kater. Er legte seinen Kopf an Dimitris Schulter und versuchte, noch eine Weile zu schlafen. Lange hatte er sich nicht mehr so geborgen gefühlt. Später überquerten sie ohne Probleme die Grenze nach Estland.


Am Nachmittag befanden sie sich in einem malerisch anmutendem, estnischen Dorf, das wirkte, als wäre es einem Märchenbuch entnommen. Michail und Dimitri standen an einem Tümpel und ließen Steine hüpfen.
Den Abschied wollten sie so lange wie möglich hinauszögern. Michail hatte vor, von hier aus nach Sankt-Petersburg zu trampen.
Was Dimitri jetzt tun wollte, wusste er noch nicht.
"Ich weiß nicht mal, wie ich die nächsten Wochen überstehen soll. Ich hab keinen Rubel", stöhnte Dimitri.
Da kam Michail eine Idee. Er zog seine Taschenuhr hervor und hielt sie Dimitri hin. "Nimm die", sagte er. "Die ist mindestens 300.000 Rubel wert, bring sie zum Pfandleiher, dann kannst du einige Wochen davon leben"
Dimitri wirkte völlig überwältigt.
"Aber Michail", fragte er vorsichtig, "bist du dir da ganz sicher?"
Michail strahlte ihn an.
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Alt 05.11.2022, 21:01   #2
weiblich Ilka-Maria
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Guten Abend, Eziotar,

du hast Spaß am Erzählen, das merkt man deiner Geschichte an. Das habe ich auch an deiner ersten Geschichte gemerkt, die von Silbermöwe gelobt wurde. Obwohl ich mich dem Lob nicht anschließen kann, denn gut erzählt fand ich sie nicht.

Aber ich bleibe an dieser Geschichte.

Zitat:
Zitat von Eziotar Beitrag anzeigen
Michail Antonowitsch, 14 Jahre alt, war jetzt seit mindestens vier Stunden gelaufen. Die Landschaft hatte sich, seit er das Ferienlager verlassen hatte jedoch kaum verändert. Auen und Felder wechselten sich mit kleinen Wäldchen und Seen ab. Michail wischte sich den Schweiß von der Stirn.
"Wie würden seine Eltern reagieren, wenn er 2 Wochen früher als angekündigt zuhause ankommen würde?" Das wollte er sich gar nicht vorstellen. Aber dort bleiben, das war nicht in Frage gekommen.
Da hat sich die Landschaft des Protagonisten kaum verändert, aber Auen und Felder wechselten sich mit Wäldchen und Seen ab?

Der Protagonist will sich nicht vorstellen, wie seine Eltern reagieren, wenn er vor der erwarteten Zeit bei ihnen ankäme, macht sich aber dennoch Gedanken, ob er dort bleiben könne?

Nebenbei bemerkt: In einem literarischen Text haben Ziffern nix zu suchen, sie gehören ausgeschrieben, also "vierzehn" und "zwei".

Ein Füllsel wie "mindestens" hilft einem Leser nicht weiter. Michail war seit vier Stunden oder über vier Stunden marschiert ... damit kann ein Leser etwas anfangen. Wenn dort "mindestens" steht, können es auch zehn oder hundert oder noch mehr Stunden sein, alles nach oben offen.

Wenn das Alter des Protagonisten schon am Anfang genannt wird, muss es einen Bezug haben. Ansonsten gehört es erst später erwähnt, wenn es in einen Bezug gesetzt werden kann.

Alles, was den Protagonisten umgibt, muss in einen Bezug zur Handlung gesetzt werden.

Mein Vorschlag:
Michail Antonowitsch war seit vier Stunden unterwegs. Über Stock und Stein war er gelaufen, seit er das Ferienlager hinter sich gelassen hatte und durch wechselnde Landschaften marschiert war, durch Auen und Wäldchen und vorbei an Feldern und Seen.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn bei der Vorstellung, wie seine Eltern reagieren würden, wenn er zwei Wochen früher, als sie ihn erwarteten, zu Hause auftaucht. Denn er wusste, dass er, schon vierzehn Jahre alt und quasi erwachsen, dort nicht mehr geduldet würde.
Mein Vorschlag ist rein literarisch zu sehen und muss zum Rest der Geschichte nicht passen, den ich, offen gesagt, nicht gelesen habe, weil sie mich nicht gefesselt hat. Ich möchte nur ein Beispiel geben, wie man Sätze besser formulieren und Leser in eine Geschichte hineinholen kann.
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Alt 05.11.2022, 23:52   #3
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Standard Hallo

Hallo Ilka Maria

Vielen Dank für deine Tipps, ich werde das in Zukunft berücksichtigen.
Wenn du sagst, du findest meine erste Geschichte nicht gut erzählt. Was gehört
für dich zu einer guten Erzählung und was hättest du in meinem Fall anders gemacht?

Liebe Grüße
Eziotar
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Alt 06.11.2022, 07:12   #4
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Zitat:
Zitat von Eziotar Beitrag anzeigen
Was gehört für dich zu einer guten Erzählung und was hättest du in meinem Fall anders gemacht?
Habe ich doch anhand eines Bespiels erläutert.

Aber okay. Nehmen wir mal den ersten Satz:

Zitat:
Michail Antonowitsch, 14 Jahre alt, war jetzt seit mindestens vier Stunden gelaufen
Welchen Gewinn hat der Leser, schon im ersten Satz zu wissen, wie Michail mit Nachnamen heißt und wie alt er ist? Solche Informationen sollten später in der Geschichte und beiläufig erscheinen.

Wörter wie "jetzt", "mindestens" und (im nächsten Satz) "jedoch" bringen nichts, sie sind unnötige Füllsel.

Am Anfang jeder Geschichte - egal ob Kurzgeschichte, Erzählung, Novelle oder Roman - steht ein Konflikt. Ihm gehört die Konzentration, denn er ist die Angel mit dem Köder, den der Leser schnappen soll. Kein Leser will wissen, wie lange ein Wanderer unterwegs war und ob die Landschaft gleich geblieben oder wechselhaft gewesen ist. Besser wäre, dem Protagonisten ein blutiges Knie anzudichten, weil er während seiner Wanderschaft auf dem Geröll eines Hügels gestürzt ist. Oder dass ihm der Magen knurrt, weil er zu wenig Wegzehrung dabei hatte. Oder dass ihm fröstelt, weil er in ein Unwetter geraten war und zu dünne Kleidung trug.

Deine Geschichte beginnt mit dem scheinbar gemütlichen Gang eines Vierzehnjährigen durch eine langweilige Landschaft. In Wahrheit ist er aber aus einem Ferienlager ausgebüchst (nehme ich an, denn wie gesagt habe ich die Geschichte nicht vollständig gelesen) und will nach Hause. Er ist von einem Drama getrieben, und das hat der Autor dem Leser zu vermitteln.

Du könntest deine Geschichte z.B. so beginnen lassen, dass Michail die Hütte seiner Eltern nach einer beschwerlichen Wanderschaft mit wundem Knie und halb verhungert erreicht hat, davor steht und resümiert, ob er wirklich Einlass begehren soll. Und wie er sein unerwartetes Auftauchen rechtfertigen kann. Da hinge ein Konflikt in der Luft, an dem man die ganze Geschichte festmachen könnte.

Passgen wie diese

Zitat:
Dann hatten die Jungs ihn furchtbar ausgelacht, weil er während den gemeinsamen Duschen als einziger eine Badehose trug. Aber er hatte sich eben geschämt. Er war erst ganz frisch in die Pubertät gekommen und unten rum war bei ihm halt noch nicht alles voll entwickelt.
sollten überdacht werden. Denn erstens ist ein Vierzehnjähriger körperlich fertig und nicht frisch in die Pubertät gekommen, und zweitens ist diese Information für die Geschichte völlig belanglos. Wer jemanden bösartig hochnehmen will, macht es nicht daran fest, ob das Opfer in der Dusche eine Badehose trägt oder sich nackt zeigt.

Eine Spieluhr ist etwas anderes als eine Taschenuhr, da sollte man schon genauer sein, um was es sich handelt.

Ich denke, damit ist es genug der Kritik.

Die Geschichte hat Substanz (inzwischen habe ich einige Passagen mehr gelesen). Sie sollte aber anders erzählt werden. Und vor allem solltest du dich auf ihren Kern einlassen. Es geht nämlich nicht um die Heimkehr, sondern um eine Freundschaft und das Verschenken einer wertvollen Uhr, um einem Mittellosen zu helfen.
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Alt 06.11.2022, 12:20   #5
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Hallo Eziotar,

den Tipps von Ilka ist nicht viel hinzuzufügen, ich möchte nur noch etwas einwerfen, was mir beim ersten Lesen aufgefallen ist: In deiner ersten Geschichte bist du durchgängig bei einem Thema geblieben, deswegen hat sie mich als Leserin mitgerissen.
In diese Geschichte hier hast du zu viel hineingepackt, Tod des Großvaters, Ferienlager, Außenseiter (btw, mit 14 fühlt sich jeder so, auch wenn es nicht jeder zugibt), Ausreißen, neue Freundschaft, Spieluhr ...
Ich hätte die Geschichte vielleicht so aufgebaut, dass am Anfang die Begebenheit im Ferienlager beschrieben wird, als die Spieluhr kaputtgeht, danach das Weglaufen - also chronologisch, und einiges andere weggelassen.

LG DieSilbermöwe
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Alt 06.11.2022, 16:16   #6
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Standard Danke

Vielen Dank an euch beide! Das sind wertvolle Tipps. Ich bin noch Anfänger und freue mich über Verbesserungsvorschläge

Gruß
Eziotar
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Alt 06.11.2022, 16:45   #7
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Zitat:
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Vielen Dank an euch beide! Das sind wertvolle Tipps. Ich bin noch Anfänger und freue mich über Verbesserungsvorschläge
Da bist du schon einen großen Schritt gegangen, Eziotar. Manche Autoren wären beleidigt gewesen und hätten sich schmollend in ihre Ecke zurückgezogen.

Bei einer Kurzgeschichte sind folgende Kriterien zu beachten:

Sie sollte in einer überschaubaren Zeit und an einem begrenzten Ort stattfinden. Beim klassischen Theater nennt man das Einheit der Zeit und des Ortes.

Sie sollte nicht mehr als zwei bis drei Personen auftreten lassen.

Nebenhandlungen gehören in eine Kurzgeschichte nicht hinein.

Perspektivwechsel vermeiden.

Eine der besten deutschen Kurzgeschichten, die ich kenne und die im Lesebuch meiner Schulzeit stand, ist "Unverhofftes Wiedersehen" von Johann Peter Hebel. Darin geht es um Liebe, Treue und Tod. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau kurz vor ihrer Hochzeit, doch ihr Bräutigam stirbt bei einem Unglück im Bergwerk. Sie bleibt ledig. Fünzig Jahre später wird der Leichnam des Mannes entdeckt, der in einem luftleeren Raum gelegen und deshalb an Jugend nichts verloren hat. Meisterhaft rafft Hebel diese fünfzig Jahre, indem er in wenigen Zeilen für jedes Jahrzehnt ein historisches Ereignis aufzählt. Wir erfahren nichts darüber, wie die Frau ein halbes Jahrhundert lang gelebt hat, sondern gehen von ihrer Jugend direkt zu ihrem Alter über, als sie geholt wird, um ein letztes Mal ihren Bräutigam zu sehen.
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Alt 07.11.2022, 19:09   #8
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Standard Hallo

Hallo Ilka Maria. Danke für deine wertvollen Tipps! Die Kurzgeschighte hört sich sehr interessant an. Die werd ich heute Abend mal lesen, wenn ich sie irgendwo finde

Viele Grüße
Eziotar
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Alt 07.11.2022, 20:37   #9
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Zitat:
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Die Kurzgeschighte hört sich sehr interessant an. Die werd ich heute Abend mal lesen, wenn ich sie irgendwo finde.
Es ist wirklich faszinierend, mit welch einfachem Trick Hebel fünfzig Jahre in seiner Geschichte überbrückt und eine Verletzung der Regeln einer Kurzgeschichte - Einhaltung von Ort, Zeit und Handlung (quasi wie beim klassischen griechischen Theater) - erfüllt.

Die Geschichte ist im Internet frei verfügbar, offenbar gibt es keinen Nachfolgeanspruch auf das Urheberrecht. Statt eines Links kopiere ich sie hier hinein, weil sie vielleicht auch andere User interessiert. Sie ist ziemlich kurz.

In Falun in Schweden küsste vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge hübsche Braut und sagte zu ihr: "Auf Sankt Luciä wird uns unsere Liebe von des Priesters Hand gesegnet. Dann sind wir Mann und Weib und bauen uns ein eigenes Nestlein." - "Und Friede und Liebe soll darin wohnen", sagte die schöne Braut mit holdem Lächeln, "denn du bist mein Einziges und Alles, und ohne dich möchte ich lieber im Grab sein, als an einem anderen Ort." Als sie aber vor St. Luciä der Pfarrer zum zweiten Mal in der Kirche ausgerufen hatte: "So nun jemand Hindernis wüsste anzuzeigen, warum diese Personen nicht möchten ehelich zusammenkommen", da meldete sich der Tod. Denn als der Jüngling den andern Morgen in seiner schwarzen Bergmannskleidung an ihrem Haus vorbeiging, der Bergmann hat sein Totenkleid immer an, da klopfte er zwar noch einmal an ihrem Fenster und sagte ihr guten Morgen, aber keinen Abend mehr. Er kam nimmer aus dem Bergwerk zurück, und sie säumte vergeblich selbigen Morgen ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zum Hochzeitstag, sondern als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um ihn und vergaß ihn nie.

Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern, Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte russisch Finnland, und die Französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war; also dass man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben, oder ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit.

Als man ihn aber zu Tag ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Gefreundete und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafenden Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglück wissen, bis die ehemalige Verlobte des Bergmanns kam, der eines Tages auf die Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen heftigen Bewegung des Gemüts erholt hatte, "es ist mein Verlobter", sagte sie endlich, "um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte und den mich Gott noch einmal sehen lässt vor meinem Ende. Acht Tage vor der Hochzeit ist er unter die Erde gegangen und nimmer heraufgekommen." Da wurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen, als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hingewelkten kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner jugendlichen Schöne, und wie in ihrer Brust nach 50 Jahren die Flamme der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte; aber er öffnete den Mund nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen; und wie sie ihn endlich von den Bergleuten in ihr Stüblein tragen ließ, als die Einzige, die ihm angehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet sei auf dem Kirchhof.

Den andern Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof und ihn die Bergleute holten, schloss sie ein Kästlein auf, legte sie ihm auf das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um und begleitete ihn alsdann in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: "Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehen im kühlen Hochzeitbett, und lass dir die Zeit nicht lange werden. Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird’s wieder Tag. - Was die Erde einmal wieder gegeben hat, wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten", sagte sie, als sie fortging und noch einmal umschaute.
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Alt 08.11.2022, 08:01   #10
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Zitat:
Es ist wirklich faszinierend, mit welch einfachem Trick Hebel fünfzig Jahre in seiner Geschichte überbrückt und eine Verletzung der Regeln einer Kurzgeschichte - Einhaltung von Ort, Zeit und Handlung (quasi wie beim klassischen griechischen Theater) - erfüllt.
In einer Kurzgeschichte kann durchaus die Zeit verdichtet werden, das ist keine Verletzung der Regeln (s. das Buch „Short Shortstorys schreiben" von Roberta Allen).
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Alt 08.11.2022, 13:35   #11
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
In einer Kurzgeschichte kann durchaus die Zeit verdichtet werden, das ist keine Verletzung der Regeln (s. das Buch „Short Shortstorys schreiben" von Roberta Allen).
Genau das schreibe ich die ganze Zeit. Und genau das habe ich mit Hebels Beispiel zeigen wollen.

Es geht darum, mit wieviel Können die Raffung der Zeit geschieht. Hebel hätte ja auch einfach schreiben können: "Fünfzig Jahre später ..." Das wären aber fünfzig tote, nichtssagende Jahre gewesen, die dem Leser völlig schnuppe gewesen wären - Hebel hat sie mit Leben gefüllt und trotzdem rasant verstreichen lassen.
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Alt 08.11.2022, 18:09   #12
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Standard Super

Wirklich eine tolle, mitreißende Geschichte
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