Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 05.07.2011, 01:44   #1
weiblich Dany
 
Benutzerbild von Dany
 
Dabei seit: 06/2011
Ort: Solingen
Alter: 54
Beiträge: 11


Standard Virginia

Virginia
Man könnte glauben Virginia wäre nach einem Mann benannt, nein genaugenommen nach dem Bundesstaat aus dem dieser Mann entstammte und den ihre Mutter nur von einer vergilbten Fotografie kannte, die die Großmutter bis zu ihrem seligen Ende in einer Schublade aufbewahrte, gleich neben einem anderen Foto, das die kleine Virginia auf den Knien eines anderen Mannes zeigte, den sie Zeit ihres Lebens Opa genannt hatte. In den Wirren der Nachkriegszeit, in denen keine Frau, die ihren Mann in Gefangenschaft wusste absehen konnte ob er je wieder heimkehrte hatte sich ihre Großmutter auf einen seltsamen, jedoch durchaus üblichen Handel eingelassen, der die Form der Hehlerei auf ein anderes Niveau führte. Da sie über keinerlei irdische Güter mehr verfügte, welche ihr der Russe gelassen hätte, tauschte sie ihren Körper gegen die begehrten Prätitiosen in Form von Nylons und Zigaretten. Virginias Mutter war wohl eine Art Beigabe ein besonderes Geschenk des Amis bevor er wieder über den großen Teich verschwand. Doch Virginia verdankte ihren ungewöhnlichen Namen der Frau, die sie großgezogen hatte. Einer dieser merkwürdig anmutenden Zufälle, die nicht mit dem wachen Verstand der rational Denkenden zu erklären sind, sondern offenbar die Antwort des Universums auf die Fragen derer zu sein scheint, die an eine höhere Macht nicht recht glauben wollen.

Der erste Teil von Virginias Leben begann mit einem Knall, als ihre Mutter an einem sonnigen Wintermorgen auf der einzigen Eispfütze vor ihrem Haus auf dem Hintern landete und so derbe aufschlug, dass ihr Hüftknochen barst. Virginia, damals noch bar jeder Vorstellung wie kalt die Welt ist in die sie hineingeboren wurde beschloss daraufhin die wohlig warme Bruthöhle sofort zu verlassen und das fahle Licht dieses Wintermorgens zu erblicken und so platschte der unausgereifte kleine Körper in den eisigen Schnee wo er erst mal liegenblieb weil die Mutter mit leidlichem Erfolg damit beschäftigt war gegen die einsetzende Ohnmacht anzukämpfen. Schließlich wälzte sie sich auf das kleine Wesen um es wenigstens von einer Seite gegen die Kälte zu schützen.

Als man sie fand war die Mutter tot und Virginia steif und kalt. Da sie noch kein wirkliches Leben hatte, war das was an ihrem geistigen Auge vorbeiziehen sollte von noch so geringer Natur, dass es sich mit einer winzigen Zeile eines Buches vergleichen ließ. Ein Buch was noch nicht mal geöffnet war und dessen Inhalt dem geneigten Leser noch offenstand, denn aufgrund dieser Tatsache, war es wohl noch zu früh das begonnene Kapitel von Virginias Dasein, oder das was es werden sollte vorzeitig zu schließen und so atmete sie tapfer Leben, was wohl auch einem Team versierter Ärzte zu verdanken war, die der kleinen Person alle erdenkliche Hilfe zuteil werden ließ.

Dennoch erwiesen sich die ungnädigen Umstände um Virginias Geburt in der Folge als gravierender, als es die Beschreibung vermuten lässt, denn als der kleine Körper auf kalten Schnee traf schmolz dieser zwar, aber die klirrende Kälte des vom Winter gezeichneten Bodens blieb unbeeindruckt der Körperwärme und so erfuhr das Kind zum ersten Mal etwas über die Kälte des Lebens und die Last der Verantwortung, die in Gestalt ihrer sterbenden Mutter schwer auf ihr lag und ihr nicht ausschließlich Wärme und Vertrautheit bot sondern ihr in erster Linie den Atem nahm.

Die hingebungsvolle Pflege einer äußerst gut aussehenden Schwester konnte das Dilemma nicht aufwiegen auch wenn das kleine Wesen unter ihrer Obhut augenscheinlich gut gedieh. Mit hervorstechendem Aussehen, aber leidlich ausgeprägter Intelligenz versorgte sie das Kind mit einem Teil fehlender Mutterliebe, die aus einem weithergeholten tierischem Instinkt entstand und entsprechender Nahrung, doch Virginia blieb klein und zart und ihren Altersgenossen in einer Weise unterlegen, die ihr zeitlebens Welpenschutz garantierte, aber im Umkehrschluß auch die gewisse Portion an Spott und Missgunst die Kindern zu Eigen war.

Virginias Erzeuger blieb unauffindbar!

Nachdem eine erkleckliche Anzahl an Entscheidungsträgern hinzugezogen war und die Behörden beschlossen hatten dem Kind ein Leben im örtlichen Waisenhaus zu ersparen, mehr, weil es vor Überfüllung zu bersten drohte, als aus der menschlichen Überlegung heraus, dass die Kleine den Härten des Heimlebens nicht gewachsen wäre, durfte die freundliche Schwester das kleine Mädchen mit nach Hause nehmen.

Virginia wuchs in einem goldenen Käfig auf. Beschützt und überbehütet von einer Mutter, die nicht die ihre war und einem Vater, der zwar auch nicht ihrer war und sie vielleicht deshalb 3 Jahre nach der Adoption verließ. Es war exakt der Tag an dem Virginia ihr erstes Wort sprach. Erst mit 8 Jahren wurde sie aufgrund einer von vielen Ärzten über Jahre diagnostizierten Entwicklungsverzögerung eingeschult. Ihr machte der offensichtliche Altersunterschied zwischen ihr und ihren Mitschülern wenig Schwierigkeiten, zudem sie immer noch ein wenig kleiner und zarter war und die optischen Kriterien für sechsjährige damit hinreichend erfüllte dennoch mieden sie die anderen Kinder.

Virginia kannte die Terminologie der Schwarzes Schaf-Theorie noch nicht und war sich ihrer Andersartigkeit nicht wirklich bewusst. Im Gegenteil! Sie entwickelte eine nahezu naive Distanzlosigkeit zu anderen Lebewesen gleich ob Mensch oder Tier, was ihr in großen Teilen ihres späteren Erwachsenenlebens einige Probleme bereiten sollte, denn später, als sie den Käfig verließ und flügge wurde beschied ihr diese Eigenschaft eine erhebliche Anzahl an Liebhabern ,die ihr vorgaukelten sie beschützen zu wollen und dann letztendlich mit ihrem zarten Körper Vorlieb nahmen .Trotz dieser Tatsache blieb Virginia weitgehend allein, weil offenbar kein Mensch den Wunsch zu haben schien mit ihr befreundet zu sein. Sie verbrachte daher viel Zeit in der ausschließlichen Gesellschaft von Literatur, denn hinter der naiven Fassade entpuppte sich ein wacher Geist mit unendlich vielen Gedanken, die gleich einer Horde Mücken in ihrem Kopf herumschwirrten und so schrieb sie endlose Geschichten und Gedichte.

Ihr eigentliches Leben begann an dem Tag als sie endlich ihre eigenen vier Wände bezog. Reichlich versorgt mit den Ratschlägen der Krankenschwester und einem Vorrat an Lebensmitteln, der ihre Großmutter zu Kriegszeiten in einen Taumel heller Freude versetzt hätte. Sie arbeitete mittlerweile als Stationshelferin in jenem Krankenhaus, welches sie in den ersten Monaten ihres Lebens beherbergt hatte und ging jeden Morgen mit großer Begeisterung und der ihr eigenen Pünktlichkeit zur Arbeit. Zum ersten Mal im hatte sie das Gefühl etwas Sinnvolles zu tun, ja sogar gebraucht zu werden. Ihr wurden nicht mehr alle Handgriffe abgenommen wie in diesem Kokon umhüllt von Fürsorge und Geborgenheit, der ihr bisher die Luft genommen hatte. Sie kümmerte sich aufopferungsvoll gerade um die Sterbenden, gerade so als wollte sie einen Teil der Liebe zurückgeben, die ihr selbst zuteil geworden war, als sie hilflos in ihrer Kiste auf der Säuglingsstation um ihr Leben gerungen hatte. An manchen Tagen verlängerte sie freiwillig ihre Schicht um dabei zu sein, wenn wieder einer den letzten Atemzug tat. Mancher Patient verstarb in ihren Armen und man fand Virginia häufig auf dem Bett sitzend und einen Toten in den Armen haltend Die Schwestern jedoch bekundeten Schwierigkeiten mit der übereifrigen Kollegin Schritt zu halten ,sie war ihnen unheimlich und verzichteten auch in den Pausen lieber auf ihre Gesellschaft. Doch Virginia war glücklich. So glücklich, dass sie eine Zeit lang sogar das Schreiben unterließ. Ihre Gedanken kamen, im Angesicht des täglichen Wechselspiels zwischen Leben und Tod endlich zur Ruhe.
Ein Jahr später traf Virginia eine Katze im Garten. Das Tier flüchtete verängstigt in den Flieder und nachdem sie viele Abende auf ihrer kleinen Terrasse vor einer Schüssel mit Futter gewartet hatte, ließ sich der Schwarze Kater wieder blicken schaute sich misstrauisch um und beschloss schließlich doch, dass sein Hunger größer war als seine Angst und fraß den Napf komplett leer.

Dieses Ritual vollzog sich ab diesem Tage an jeden Abend. Virginia harrte aus und er Kater fraß.

Irgendwann begann sie mit ihrer Abendmahlzeit auf ihn zu warten und sie aßen gemeinsam wie eine Familie am gleichen Tisch.
Als er nach mehreren Wochen zum ersten Mal die Wohnung betrat war jene merkwürdige Vertrautheit alter Bekannter, die aus den Essensverabredungen gewachsen war einem spürbaren Verlangen nach Nähe gewichen was sich in beiden Herzen breit machte. In den nächsten Jahren war das schwarze Vieh beinahe ihr einziger Gesprächspartner. Sicher sie sprach auch mit den Kolleginnen und vor allem mit den Patienten, denen sie auf eine hingebungsvolle Weise zugetan schien. Doch die Dinge die ihr Herz und ihren Verstand bewegten besprach sie mit dem Kater, der sie oft aus seinen grünen wissenden Augen ansah, als würde er sie verstehen. Ihre Liebhaber mochten den Schwarzen nicht und er mochte die Männer nicht. Vielleicht gab es in den Tiefen seiner Erinnerungen dunkle Momente in denen ein Mann ihm Böses angetan hatte, denn wann immer ein Mann ihre Wohnung betrat fauchte er aus einer Ecke heraus mit buschigem Schwanz und musste in die Küche gesperrt werden um zu verhindern, dass er seine scharfen Krallen in die Hosenbeine des Besuchers versenkte.

Nach etwa 5 Jahren verschied der Schwarze in ihren Armen. Vor 3 Jahren hatte er sein Augenlicht verloren. Virginia begrub ihn unter dem Flieder, einen Meter von der Stelle, an der er zum ersten Mal aufgetaucht war.
Ein paar Monate danach, Monate in denen Virginias Leben seinen Sinn eingebüßt zu haben schien wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Im letzten Jahr war ein Verfahren eingeleitet worden, weil auffiel. dass immer wieder Medikamente aus dem Medizinschrank verschwanden und nicht mehr auffindbar waren. Virginia geriet in Verdacht, weil sie sich immer wieder in der Nähe dieses Schrankes aufhielt. Nach ein paar Wochen festigten sich die Anschuldigungen, als sie eines Nachmittags im August sich vor der offenen Schranktür, plötzlich mit der Stationsschwester Auge in Auge wiederfand und sich schwerlich eine Erklärung für ihr Tun finden ließ.

Von diesem Tag an blieb Virginia im Haus und verließ es nur noch wenn sie Einkäufe zu machen hatte. Den Rest der Zeit verbrachte sie mit Schreiben. So endlos und wirr wie in früherer Zeit und eines Tages entstand eine jener Geschichten, die das Leben selbst uns schreibt, die Hand nur geführt von Erinnerungen und bringt schließlich Wahrheiten zutage, deren Existenz wir uns nicht bewusst werden wollen, die aber dennoch ihrer Grausamkeit nicht minder werden indem wir sie verschleiern.

Virginia schrieb:
Vor Jahren lief mir ein Kater zu, ein schwarzes Vieh, groß und
in der Eigenart dieser Gattung unberechenbar im Wesen.
Immer auf der Suche nach Abenteuer, nach der nächsten rolligen
Katze, einem vollen Futternapf und dabei spielte es keine
sonderliche Rolle wo dieser Napf stand.
Ich glaube das war es, was mich als erstes störte .
Diese Wahllosigkeit. Wo ich mir solche Mühe gab, seinen
Futternapf nur mit den besten Leckereien zu füllen.
Es erschien mir und erscheint mir auch heute noch, als
ausgesprochen undankbar. Ein Umstand der sich auch nicht
dadurch änderte, das der Schwarze sich immer wieder mal
bemüßigt sah, mir in die Ohren zu schnurren, oder mir um die
Beine zu streifen, um sich dabei an mir zu reiben, und mir so
seine Dankbarkeit bewies.
Möglicherweise würde dieser Ausdruck von Dankbarkeit auch
gereicht haben, wenn der Schwarze, sich dabei auf mich
beschränkt hätte.
Aber wie ich schon erwähnte, da gab es diese außerordentliche
Wahllosigkeit.
Oft, wenn der Schwarze von seinen Streifzügen zurückkehrte,
lag er zusammengerollt vor dem Ofen und funkelte mich aus
seinen grünen Augen an.
In meinem Herzen wuchs dann so etwas wie Mitleid mit dieser
Kreatur, die immer ihrem Trieb folgen musste , darüber immer
in ihrer Wahllosigkeit verharrte und nie wirklich Heimat fand.
Ja , ein tiefes Bedauern breitete sich über dieses Erkennen in
mir aus und so lag es nahe, das ich darüber sann, wie dem
Schwarzen zu helfen sei.
Ich hab wirklich sehr lange überlegt, Möglichkeiten
abgeglichen, hin und her gedreht , aus verschiedenen
Perspektiven beleuchtet, weil mir nichts ferner lag als dem Schwarzen unnötigen Schmerz zu bereiten.
Aber bei all diesen Betrachtungen kam ich immer wieder auf den
Punkt , dass nichts die Wahllosigkeit stärker beschränkte, als
die Abhängigkeit von einander.
Nun wie ich schon sagte, unnötig schmerzen wollte ich den
Schwarzen nicht, auch wollte ich ihn nicht seines Wesens
berauben.
So landete ich immer wieder bei seinen grünen funkelnden
Augen.
Nein, einfach hatte ich mir das wirklich nicht gemacht,
außerdem mochte ich das Grün seiner Augen.
Es erforderte dann nochmals einen intensiven Zeitaufwand an
Recherche, wie und was für eine Medikation einzusetzen
auch nicht hinterher.
Manchmal vermisse ich das Grün seiner Augen auch heute noch,
aber ich glaube es gibt keinen anhänglicheren Kater, keinen
Schritt weicht er mir von der Seite und seine Dankbarkeit, bei
mir Heimat gefunden zu haben, ist riesengroß.

Eigentlich wäre das alles gar nicht so erwähnenswert, aber
sehen sie, vor ein paar Monaten da lernte ich einen Mann kennen und gewisse
Ähnlichkeiten sind nicht von der Hand zu weisen.
Manchmal liegt er neben mir im Bett, schaut mich mit seinen
braunen Augen an, und dann macht sich so ein großes Bedauern
in mir breit.
Wie ich es auch drehe und wende ich lande immer bei der
Abhängigkeit.
Die Medikation müsste natürlich eine andere sein als
bei einem großen schwarzen Kater..............aber sonst ?
Dany ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Virginia




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.