Kurze Betrachtung über die Liebe
Du sprichst sie nicht aus, doch sie steht dir in die Augen geschrieben, die Frage: "Liebst du mich noch?" Ich erkläre mich nicht, sondern frage mich selbst: "Liebst du ihn noch?" Doch anstatt eine Antwort zu finden, reiht sich Frage an Frage wie die Perlen einer Kette.
Wo ist die Faszination geblieben, die mich einst zu dir zog und an dich band? Sie ist nicht fort, das spüre ich, aber sie schubst mein Herz nicht mehr an. In irgendeiner Ecke meines Seins hat sie es sich gemütlich gemacht, inmitten all der anderen Empfindungen, die ich für dich hege, von Vertrauen und Zärtlichkeit bis mitunter zu Ärger. Es ist wie mit einem Buch, in dessen Mitte man angelangt ist und nicht mehr weiß, was auf den ersten Seiten gestanden und dazu bewogen hat, es zu lesen. Man legt es nicht mehr weg, auch dann nicht, wenn man ahnt, dass die Geschichte nicht gut ausgehen wird.
Was war diese Faszination, die der Anfang jeder Liebe ist? Es war deine Freundlichkeit und die Ehrlichkeit in deinen Augen, das Fehlen jeglicher Bösartigkeit, sogar eine Spur von Verwundbarkeit. "Ich kann mir nicht vorstellen, Sie einmal wütend zu sehen", sagte ich damals zu dir, bei unserem ersten Kennenlernen, und du lachtest mich aus. "Oho, ich kann sehr wütend werden." Aber bis heute bin ich davon nicht Zeugin geworden. Eher von deiner Ungeduld, die mich oft hätte auf die Palme bringen können. In Sachen Wut war ich dir immer überlegen gewesen.
Ist es noch Liebe, oder ist nur Gewohnheit geblieben – was man auch Bequemlichkeit nennen könnte? Ist diese Frage überhaupt noch wichtig? Man hat sich, kennt sich, weiß, woran man ist. Das Miteinander ist kalkulierbar geworden, Stürme bleiben im Wasserglas und richten keinen Schaden mehr an. Deckel drauf und fertig.
Wie geht die Liebe weiter? Wie alles im Leben und nach den Regeln der Zeit: immer vorwärts, niemals zurück. Sie wird schwach mit dem Körper, in dem sie wohnt, und wenn der Körper stirbt, geht sie mit und hat nichts mehr zu geben. Dann bleibt nur noch die Erinnerung an Faszination, Leidenschaft und Hingabe und das Glück, geliebt zu haben.
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