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03.07.2022, 16:42 | #1 |
Dabei seit: 07/2022
Ort: Mainz-Kastel
Beiträge: 26
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Vorstadt in Hassen
Diese Vorstadt ist so pittoresk lieblos, dass es schmerzt. Enge Bürgersteige, Poller im Weg und überall große Mülltonnen, übervoll. Daneben kurz mal Racing in der 30er-Zone. Sinnlos helle abgerundete neuere Pflastersteine, von städtischen Planern für die runde Weinort-Inszenierung gedacht, aber immer mit irgendwas verschmiert. Der regelmäßige Hundehaufen vor der immer leeren Filiale der Stadtbibliothek. Halbhohe bürgerliche Häuserschluchten bedrängen den Fußgänger, vermüllte Wohnsilos daneben schreien stumm den Himmel oder auch die Familie an. Lebensart der selbstgefälligen Hoffnungslosen: Von Generation zu Generation vererbter Trotz und Häme. Nicht nur arm, das Gehalt versoffen, auch ganz viel schlechtes Gefühl und schaler Geschmack, kaputte Gesichter und keine Ahnung, was sonst tun mit sich und dem Gehalt. Überall Beautyshops und Sportpanzer, Rassismus ständig im Nacken. Rauchende Mütter, die ihre Kinder im Supermarkt anschreien oder Ihnen sonstwie Hass eintrichtern. Luftleeres Nebeneinander der Vorstadt, klein wie ein Kochtopf, ein Druck wie im Dorf - ohne Kontakt oder gar Zusammenhalt.
Im Kiez-Kiosk eingebrochen, viel mehr Schaden als Beute, zweihundert Meter weiter aufgeflogen, ein paar Stangen Zigaretten. Der formlos fette Paketladeninhaber warnt vor den Faschisten des Veggie-Days, die einmal im Jahr ein Attentat auf ihn planen, und kämpft um sein Menschenrecht auf Wurst. Die hässlichste Fußgängerzone und Kirche je gesehen, verschliert grau von zerlaufenden, ständig abgelagerten Schichten von Abgasen, die alles umgeben, von der anderen Stadt herüber, auf der Brücke gesammelt, von der Bundesstraße heran gepumpt, gestresste Pendler aus dem Grünen, und Freizeitlöwen mit dicken Autos: Gas geben, zum Spaß, zur Not und gegen die Verzweiflung. Breite Straßen rund um die Kaserne. Einst für den Durchzug von Truppen gebaut, auf Sumpf und Mückenplage, aber dann doch Leben hier hängengeblieben, seit Jahrhunderten am Irrtum klammernd, trotz allen Elends dieser ewigen Gosse. Die Vermögenden ganz außerhalb, entlang der grünen Promenade, hinter Zäunen und aristokratischen Fassaden verschanzt, nach der Deindustrialisierung aus der Stadt hergezogen, ins neue Grün: Gleich daneben die Insel des adretten Parks mit halb verschmutzem, halb naturnahem Flussufer, mit aller Kraft gerade so das Gleichgewicht haltend, damit das Ganze nicht in den großen Gulli rutscht. |
06.07.2022, 04:08 | #2 |
Dabei seit: 02/2020
Beiträge: 406
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Hi scherzlos,
dem unausgesprochenen Lyrischen Ich möchte man direkt eine Stereobrille verpassen. Denn zur Wahrnehmung der Welt bedarf es nunmal eines Stereoblickes, damit die Freude auf Dauer nicht baden geht, damit Entwicklung passiert. Wer z.B. in einem Kleinkind nur den plärrenden, egoistischen, nervenden, stinkenden, müllverursachenden, kleinen Scheißer zu sehen vermag, erkennt auch keine Zukunft in ihm. Mit diesem scherzlosen und schmerzhaften Blick ließen sich aber ganz gut mittelgroße, langweilige Vorstädte in Hassen beschreiben. Dieser Blick ist jedoch durchaus wichtig. Denn wer in Funktion etwas bewegen will, muss den Missstand erstmal richtig erkennen, sehen und analysieren. Das permanente Genervt- und Gestresst Sein ist hierbei ein ganz guter Motor, welcher dazu beizutragen kann, dass der Mensch die Dinge in seiner Umgebung zu seiner Zufriedenheit verändert und daraus eine Zukunftsvision entwickeln kann. Daneben gibt es aber auch Scouts, die machen dich auf glückliche Kinder an geglückten Baumaßnahmen, auf innerstädtische Fauna und Flora am Wegesrand, sowie auf eine bedeutende Historie aufmerksam, die dem vordergründigen Auge verborgen bleibt. Durchaus glücklich schätzen kann sich mEa., wer neben dem Müll die verborgenen Juwelen um sich herum wahrnehmen kann, sie zu schätzen weiß, sich an ihnen erfreuen und sich um deren Erhalt kümmern kann. L.G.Donna |
06.07.2022, 21:52 | #3 |
Dabei seit: 07/2022
Ort: Mainz-Kastel
Beiträge: 26
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Hallo Donna,
danke für das Lesen und die Beschäftigung mit dem Text. Aber ich denke, es braucht keine weltanschauliche Korrektur dieser Milieustudie, noch des lyrischen Ichs, noch des Autors. Auch bei umfassender Betrachtung bleiben viele Dinge ungut. Und es finden sich darin keine Klagen über Kinder. |
07.07.2022, 01:47 | #4 |
Forumsleitung
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Wer es auf die Spitze treiben will, reiht Klischees aneinander und landet damit immer einen Volltreffer. Die Wahrheit ist, dass die Menschen bevorzugt in die Städte streben, und wer einmal das Glück hatte, dort eine der immer weniger zur Verfügung stehenden Wohnungen zu ergattern, klammert sich energisch an ihr fest. Das Stadtwohnen ist so begehrt, dass die Immobilien- und Mietpreise wie Raketen in den Himmel schießen. Ein guter Side Effect ist, dass man auf ein Auto verzichten kann und sich nicht mehr als Dreckschleuder der Nation beschimpfen lassen muss. Wer im edlen Frankfurter Westend lebt - und das kann sich sogar ein Single noch leisten -, kommt sogar ohne S- und U-Bahn aus, denn er ist in 15 Minuten per pedes in der Innenstadt.
Die Stadtplaner reiben sich dafür auf, die Wohnqualität zu erhöhen, indem sie Parks anlegen und pflegen lassen, Straßen verkehrsberuhigen und Plätze für Bürgerfeste zur Verfügung stellen, die fast monatlich unter einem anderen Vorwand stattfinden. Die Städter kommen aus dem Feiern rund ums Jahr gar nicht mehr raus und sind fast ständig besoffen. Jeder Stadtteil hat zudem seinen eigenen Markt und ein halbes Dutzend Discounter. Klar ist, dass so manche Platte auf dem Gehweg scheppert und die Löcher im Straßenbelag immer größer werden. Das wird sogar noch schlimmer werden, weil die Länder immer mehr Lasten, die sie früher getragen haben, auf die Kommunen abwälzen, deren Steuereinnahmen aber nicht ausreichen, allen Verpflichtungen nachzukommen. Wer also seine High Heels nicht killen will, geht besser in Sportschuhen auf die Straße. Immer noch besser, als in der angeblich so grünen, idyllischen Landschaft zu leben, wo nur einmal im Monat der Bus vorbeikommt oder ein Zug hält und wo man das Smartphone in den Bach werfen kann, weil man im Tal der Empfangslosen dahinvegetiert. Und wo man mitnichten auf wohlhabende Ausrücker in dicken Autos trifft. Die befinden sich ganz woanders, nämlich auf ihren Yachten im sonnigen Süden. Was auch schon wieder ein Armutszeugnis ist, denn heutzutage reist ein wirklich Stinkreicher in den Orbit. |
17.07.2022, 13:12 | #5 |
Dabei seit: 07/2022
Ort: Mainz-Kastel
Beiträge: 26
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Alle leben in je ihrer Welt und fahren das eigene Kopfkino,
zum Soundtrack der Eindrücke. |
Lesezeichen für Vorstadt in Hassen |
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